Home > Chemie > Studienvorbereitung OC > Cycloalkane > 1. Allgemeines

4. Ringspannung

Allgemeines - Nomenklatur - phys. Eigenschaften - Ringspannung - Reaktionen/Bildung

4.1 Rekapitulation Schulwissen

In der Schule haben Sie vielleicht Cyclopentan und Cyclohexan kennengelernt, bei diesen Cycloalkanen tritt so gut wie keine Ringspannung auf, daher wurde das Thema wahrscheinlich in der Schule noch nicht besprochen.

Haben Sie schon einmal versucht, mit einem Molekülbaukasten ein Cyclopropan-Molekül zu bauen? Ist Ihnen das unfertige Modell dabei auch schon mal regelrecht aus den Händen gesprungen, weil sich die eine C-C-Einfachbindung, die Sie gerade fertig gebracht haben, wieder aufgesprungen ist? Dann haben Sie gemerkt, wie viel Energie in einem solchen engen Ring aus C-Atomen gespeichert ist. Diese Energie bezeichnet man als Ringspannung.

4.2 Studienvorbereitung

Zustandekommen der Ringspannung

Die sp3-Hybridorbitale eines C-Atoms bilden Winkel von ca. 109 Grad aus. Die Winkel in einem gleichseitigen Dreieck haben dagegen einen Wert von 60 Grad. Wenn drei Kohlenstoff-Atome ein Cyclopropan-Molekül bilden sollen, besteht genau dieses Problem.

Überlappung der sp3-Orbitale bei Cyclopropan und Cyclopentan
Autor: Ulrich Helmich 01/2023, Lizenz: siehe Seitenende

Links im Bild sehen wir das Cyclopropan-Molekül in der Aufsicht. Die Kugelwolken bzw. Orbitale der drei C-Atome überlappen sich nur sehr schwach. Damit überhaupt eine "vernünftige" Bindung zustande kommt, "verbiegen" sich die Orbitale der C-Atome so, dass sie Winkel von 104º bilden [2]. Dann ist die Überlappung etwas stärker als in dem Bild gezeigt, und die Bindung zwischen den C-Atomen ist etwas stabiler.

Beim Cyclopentan - rechts im Bild - dagegen können die Orbitale sehr gut überlappen, weil die Winkel eines gleichseitigen Fünfecks fast genau dem Tetraederwinkel entsprechen, daher können die sp3-Hybridorbitale vollständig überlappen.

Experimentelle Ermittlung der Ringspannung

Experimentell konnte man die geringere Orbital-Überlappung durch Messung der Bindungsdissoziationsenergien für die C-C-Einfachbindung nachweisen. In Alkanen wie Ethan oder Propan beträgt diese Energie 377 kJ/mol, im Cyclopropan hat man jedoch nur 272 kJ/mol gemessen[2], also deutlich weniger.

Die Verbrennungsenthalpien der Cycloalkane

Betrachten wir einmal die Verbrennungsenthalpien offenkettiger Alkane; die Daten kommen aus [2] und wurden gerundet:

  • Propan: -2220 kJ/mol
  • Butan: -2876 kJ/mol
  • Pentan: -3536 kJ/mol
  • Hexan: -4195 kJ/mol

Die vier Alkane unterscheiden sich jeweils durch eine Methylengruppe (-CH2-). Wir können also leicht ausrechnen, wie stark sich die Verbrennungsenthalpie ΔHoVerbr jeweils ändert.

  • Vom Propan zum Butan um -656 kJ/mol
  • Vom Butan zum Pentan um -660 kJ/mol
  • Vom Pentan zum Hexan um -659 kJ/mol

Im Durchschnitt sind das also rund -658 kJ/mol pro Methylengruppe. Heptan müsste dann eine Verbrennungsenthalpie von 7 x 658 = -4606 kJ/mol haben.

Cycloalkane bestehen ausschließlich aus Methylengruppen, es gibt keine CH3-Gruppen, welche die Berechnung der Verbrennungsenthalpie schwieriger machen. Legen wir jetzt für jede Methylengruppe einen Wert von 658 kJ/mol zu Grunde, dann müsste Cyclopropan eine Verbrennungsenthalpie von 3 x 658 = 1974 kJ/mol haben. Entsprechend berechnen wir für die anderen drei Cycloalkane Werte von 2632, 3290 und 3948 kJ/mol.

Schauen wir uns jetzt die experimentell ermittelten Verbrennungsenthalpien der entsprechenden Cycloalkane an:

Die Abweichungen der gemessenen von den berechneten Werten stellen wir einmal graphisch dar:

Theoretische (rot) und gemessene (blau) Verbrennungsenthalpien der ersten vier Cycloalkane
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Es fällt auf, dass die Differenz zwischen den berechneten und den tatsächlich gemessenen Verbrennungsenthalpien vom Cyclopropan zum Cyclohexan immer geringer wird.

Was wird auch immer geringer, wenn Sie Molekülmodelle von Cyclopropan, -butan, -pentan und -hexan bauen? Die Ringspannung! Offensichtlich ist die ermittelte Differenz auf die Ringspannung der Cycloalkane zurückzuführen.

Die Ringspannung wird von drei Kräften bestimmt

Bindungswinkelspannung

Der erste Faktor, der die Ringspannung beeinflusst, ist die sogenannte Bindungswinkelspannung. Das ist "die Energie, die benötigt wird, um die tetraedrischen Kohlenstoffatome so weit zu verzerren, dass der Ringschluss möglich ist" [2]. Andere Autoren sprechen von einer Winkeldeformation oder Baeyer-Spannung.

Besonders stark wirkt dieser Faktor beim Cyclopropan, wie wir bereits im vorherigen Abschnitt gesehen haben. Nochmal zur Wiederholung: Ein gleichseitiges Dreieck hat Winkel von 60 Grad, ein tetraedrisches C-Atom dagegen bildet Bindungswinkel von 109,5 Grad aus. Im Cyclopropan findet man experimentell einen Orbitalwinkel von 104 Grad, mehr kann sich das C-Atom aber nicht "verbiegen". Die sp3-Hybridorbitale überlappen also nur sehr schwach, geringste Einflüsse von außen "sprengen" die schwachen C-C-Bindungen (siehe Abbildung 2).

Konformative Spannung

Der zweite Faktor, der sich auf die Ringspannung auswirkt, ist die konformative Spannung, die auch als Pitzer-Spannung bezeichnet wird. Betrachten Sie einmal das Ethan-Molekül, das ja in vielen Konformationen vorkommen kann, von denen zwei sogar einen eigenen Namen haben:

Die gestaffelte und die verdeckte Konformation des Ethan-Moleküls
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.

Die verdeckte Konformation hat eine etwas höhere Energie als die gestaffelte, weil sich die Bindungselektronen der C-H-Bindungen näher kommen und sich daher eher abstoßen als in der gestaffelten Konformation.

Wir bauen uns nun ein Cyclopropan-Molekül zusammen:

Das Cyclopropan-Molekül
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Man sieht sofort, dass die H-Atome in einer verdeckten Konformation vorliegen, die Bindungselektronen der C-H-Bindungen kommen sich also sehr nahe, was zu einer gewissen Abstoßung führt.

Für Cyclopropan hat die Baeyer-Spannung einen Anteil von 78 kJ/mol und die Pitzer-Spannung einen Anteil von 38 kJ/mol an der Ringspannung von 116 kJ/mol.

Bei größeren Ringen gibt es noch einen dritten Faktor, der die Ringspannung beeinflusst.

Transannulare Wechselwirkung

Ein Cycloalkan mit 12 C-Atomen
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Hier sehen wir ein großes Cycloalkan, ein Cyclododecan mit 12 C-Atomen. Die weißen Pfeile deuten an, dass sich hier die Elektronenwolken nicht-benachbarter, relativ weit entfernter H-Atome "in die Quere" kommen. Solche Wechselwirkungen, die nur bei großen Ringen vorkommen, bezeichnet man als transannulare Wechselwirkung oder Prelog-Spannung.

Bei großen Ringen spielen die beiden anderen Faktoren so gut wie keine Rolle mehr, große Ringe ähneln im Prinzip langen Ketten, deren Enden sich zusammengeschlossen haben. Eine verdeckte Konformation kann hier durch relativ freies Drehen um die C-C-Achsen leicht vermieden werden, so dass die Pitzer-Spannung (konformative Spannung) recht klein ist. Ebenso tritt kaum eine Baeyer-Spannung (Winkeldeformation) auf, die Bindungswinkel betragen 109,5 Grad oder sind zumindest nicht weit davon entfernt.

Cyclopentan
Cyclohexan

Zwei Cycloalkane werden auf meiner Homepage besonders ausführlich besprochen, nämlich Cyclopentan und Cyclohexan. Wenn Sie sich dafür interessieren, besuchen Sie doch bitte die entsprechenden Lexikonseiten.

Was sagt die Fachliteratur?

Schauen wir jetzt mal wieder in die unten aufgeführten Hochschul-Lehrbücher. Was sagen die zum Thema "Ringspannung der Cycloalkane"?

Im Fox/Whitesell finden sich ein paar Sätze zur Ringspannung. Interessant ist, dass hier Folgendes hervorgehoben wird: "Aufgrund dieser Spannung hat Cyclopropan eine höhere potentielle Energie als ein nicht gespanntes Molekül. Diese als Spannungsenergie bezeichnet Extraenergie wird bei der Verbrennung von Cyclopropan freigesetzt und beträgt ungefähr 117 kJ/mol" [1, S. 20].

In diesem Buch findet sich auch eine schöne Tabelle mit den Spannungsenergien:

Verbindung Spannungsenergie in kJ/mol
Cyclopropan 115,5
Cyclobutan 110,5
Cyclopentan 27,2
Cyclohexan 0
Cycloheptan 26,35
Cyclooctan 40,2
Cyclononan 52,7

im Vollhardt/Schore gibt es ein eigenes großes Kapitel zur Ringspannung der Cycloalkane, viele Fakten, die auf dieser Webseite genannt werden, stammen aus diesem Buch.

Der Clayden widmet sich der Ringspannung auf mehreren Seiten, und im Morrison/Boyd findet sich ebenfalls ein größerer Abschnitt zur "Baeyer strain theory".

Das Thema wird also in allen Lehrbüchern der Organischen Chemie ausführlich behandelt.

Quellen:

  1. M. A. Fox, J. K. Whitesell: Organische Chemie - Grundlagen, Mechanismen, bioorganische Anwendungen. 1. Auflage, Heidelberg 1995.
  2. K. P. C. Vollhard, N.E. Schore: Organische Chemie. 6. Auflage, Weinheim 2020.
  3. J. Clayden, N. Greeves, S. Warren: Organische Chemie. Berlin 2013.
  4. R. T. Morrison, R. N. Boyd, S. K. Bhattacharjee: Organic Chemistry. 7. Auflage, Dorling Kindersley 2011.

Seitenanfang -
Weiter mit den Reaktionen der Cycloalkane sowie Synthesemöglichkeiten ...