Die von Helmholtz - Versuche
Wie lange dauert es eigentlich, bis ein Aktionspotenzial vom Axonhügel bis zur Synapse gelangt? Mit dieser interessanten Frage haben sich Biologen schon sehr früh beschäftigt, und vor allem Hermann von Helmholtz (1821 - 1894) ist hier zu nennen. Ende des 19. Jahrhunderts konstruierte er eine Versuchsanordnung, mit der er die Geschwindigkeit der Erregungsleitung ziemlich genau bestimmen konnte. Er isolierte dazu einen Froschmuskel samt zuleitendem motorischen Nerv. Diesen Nerv reizte von Helmholtz elektrisch und maß dann die Zeit, die bis zum Zusammenzucken des Muskels verging. Wenn er den Nerv ziemlich dicht am Muskel reizte, kontrahierte dieser schon nach wenigen Millisekunden. Reizte er den Nerv 3 cm weiter entfernt vom Muskel, dauert es ca. 1/100 Sekunde länger, bis dieser kontrahierte. Natürlich hatte von Helmholtz keine Uhr, mit der er derart genau die Zeit messen konnte. Er befestigte eine Art Stift an dem Muskel, und dieser Stift zeichnete eine Linie auf einer mit Kohle beschichteten Walze, die sich schnell drehte. Sobald sich der Muskel zusammenzog, ging der Stift nach oben und gleich wieder nach unten, und auf der Walze entstand so eine weiße Kurve.
Im Jahre 1850 schrieb von Helmholtz in einer wissenschaftlichen Arbeit Folgendes [1]:
"Ich habe gefunden, dass eine messbare Zeit vergeht, während sich der Reiz, welchen ein momentaner elektrischer Strom auf das Hüftgeflecht eines Frosches ausübt, bis zum Eintritt des Schenkelnerven in den Wadenmuskel fortpflanzt. Bei großen Fröschen, deren Nerven 50 bis 60 Millimeter lang waren, und welche ich bei 2 bis 6 Grad Celsius aufbewahrt hatte, während die Temperatur des Beobachtungszimmers zwischen 11 und 15 Grad lag, betrug diese Zeitdauer 0,0014 bis 0,0020 einer Sekunde."Nun wollen wir einmal nachrechnen; dazu nehmen wir die Mittelwerte aus der obigen Textstelle, die ich übrigens in dem Wikipedia-Artikel über Hermann von Helmholtz gefunden habe [2].
Wir nehmen eine Nervenlänge von 55 Millimetern an und eine Zeitdauer von 0,0017 Sekunden. Dann kommen wir auf eine Leitungsgeschwindigkeit von $\frac{55mm}{0,0017s} = 32353 mm/s = 32 m/s$.
Schauen wir uns nun an, was aktuelle Forschung über die Erregungsleitungsgeschwindigkeit herausgefunden hat:
Tierart | Durchmesser in mm | Geschwindigkeit in m/s |
Qualle | 0,009 | 0,5 |
Schabe | 0,050 | 7 |
Tintenfisch | 0,650 | 25 |
Frosch | 0,015 | 30 |
Wenn man bedenkt, welche bescheidenen Mittel von Helmholtz im vorletzten Jahrhundert zur Verfügung standen, ist sein Ergebnis von 32 m/s schon ziemlich beeindruckend, vor allem, weil es mit den Ergebnissen aktueller Forschungsarbeiten übereinstimmt.
Die Tabelle oben zeigt uns, dass die Geschwindigkeit der Erregungsleitung sehr stark vom Durchmesser des Axons abhängt. Je dicker das Axon, desto schneller wird die Erregung weitergeleitet. Das liegt an der zunehmenden Oberfläche des Axons, die ja mit dem Radius linear ansteigt (Umfang eines Kreises = Pi * Radius). Betrachtet man allerdings die Daten des Frosches, dann fällt etwas Interessantes auf. Das hängt damit zusammen, dass der Frosch ein Wirbeltier ist, während die anderen drei Tiere zu den Wirbellosen gehören.
Geschwindigkeiten bei Wirbeltieren
Bei Wirbeltieren wie der Katze hat man Geschwindigkeiten von 85 m/s und mehr gemessen. Angenommen, die Erregungsleitungsgeschwindigkeit wäre ausschließlich von der Oberfläche (und damit vom Durchmesser) des Axons abhängig. Welchen Durchmesser müsste dann ein Axon der Katze haben, damit diese hohe Geschwindigkeit erreicht würde?
Solche Fragen kann man mit Hilfe mathematischer Software leicht beantworten:
Extrapolation der Nervenleitgeschwindigkeit
Autor: Ulrich Helmich 2020, Lizenz: siehe Seitenende.
Ich habe hier in das Programm LSAnalyzer einfach mal die ersten drei Werte aus der obigen Tabelle eingetragen und für die Katze einen Durchmesser von 3 mm gewählt. Die oben gezeigte quadratische Funktion
y = -0,0000031315 x2 + 0,036869 x + 2.5667
passt sehr gut zu den vier Wertepaaren (9/0.5), (50,7), (650,25) und (3000,85).
Der quadratische Term ist allerdings extrem klein, man könnte ihn wahrscheinlich ganz weglassen und erhielte dann eine lineare Funktion.
Ergebnis: Ein Axon der Katze müsste einen Durchmesser von 3 mm haben, damit eine Geschwindigkeit von 85 m/s erreicht würde.
Ein solches Axon wäre schon sehr dick, aber eventuell noch denkbar. Ein Nerv allerdings besteht aber aus einem Bündel vieler solcher Axone und hätte damit leicht einen Durchmesser von 10 cm oder mehr, was bei einem kleinen Tier wie einer Katze undenkbar ist.
Tierart | Durchmesser in mm | Geschwindigkeit in m/s |
Tintenfisch | 0,650 | 25 |
Frosch | 0,015 | 30 |
Katze | 0,015 | 85 |
Wie man sieht, haben die Wirbeltiere Frosch und Katze sehr dünne Axone, viel dünner als die des Tintenfischs. Trotzdem ist die Geschwindigkeit der Erregungsweiterleitung bei der Katze deutlich größer als beim Tintenfisch. Durch welchen "Trick" der Evolution ist diese beachtliche Steigerung der Geschwindigkeit möglich geworden?
Myelinscheiden isolieren das Axon
Bei Wirbeltieren liegen Axone von peripheren Nervenzellen (das sind Nervenzelle außerhalb des Gehirns) in der Regel nicht "nackt" vor, sondern sie sind von einer Markscheide umgeben. Das ist durchaus vergleichbar mit den Kupferkabeln in einem elektrischen Gerät, die von Kunststoff umgeben sind. Der Kunststoff um die Kabel hat die Aufgabe, die einzelnen Kabel voneinander zu isolieren, damit kein Kurzschluss entsteht. Eine ähnliche Aufgabe hat die Markscheide, die ein Axon umgibt. Würden sich zwei Axone direkt berühren, so könnten Aktionspotenziale des einen Axons zur Bildung von Aktionspotenzialen auf dem anderen Axon führen, wo diese vielleicht gar nicht erwünscht sind.
Axon mit mehreren Schwannschen Zellen
Autor: Ulrich Helmich 2020, Lizenz: siehe Seitenende.
Hier sehen wir ein Axon, das von acht Schwannschen Zellen umgeben ist. Die Gesamtheit aller Schwannschen Zellen eines Axons wird als Markscheide oder - nach einem chemischen Bestandteil ihrer Zellmembranen - Myelinscheide bezeichnet. In den Lücken zwischen zwei Schwannschen Zellen ist das Axon gut zu sehen. Diese Lücken werden als Ranviersche Schnürringe bezeichnet. Die Schwannschen Zellen gehören übrigens zu einer besonderen Gruppe von Zellen des Nervensystems, den sogenannten Gliazellen.
Ein Axon mit einer Myelinscheide im Querschnitt
Autor: Ulrich Helmich 2020, Lizenz: siehe Seitenende.
Hier sehen wir einen Querschnitt durch ein Axon (gelb), das von einer Schwannschen Zelle umhüllt ist, deren Zellkern oben zu sehen ist.
Die Abbildung zeigt allerdings nur fünf Schichten der Schwannschen Zelle. In Wirklichkeit kann eine Schwannsche Zelle das Axon mit 30, 40 oder noch mehr Schichten umwickeln.
Neben den Schwannschen Zellen gibt es eine zweite Klasse von Gliazellen, die in der Lage ist, Myelinscheiden zu bilden, nämlich die Oligodendrocyten. Oligodendrocyten können sogar mehrere verschiedene Axone gleichzeitig "umwickeln", weil sie stark verzweigt sind.
Schwannsche Zellen und Oligodendrocyten haben sich spezialisiert. Im Gehirn und im zentralen Nervensystem werden die Myelinscheiden von Oligodendrocyten gebildet, im peripheren Nervensystem, also zum Beispiel in den Armen und Beinen, sind des die Schwannschen Zellen, welche die Myelinscheiden bilden. Das trifft vor allem für die Motoneurone an den Skelettmuskeln zu.
Myelinscheiden erhöhen die Geschwindigkeit der Erregungsleitung
Es ist kein Zufall, dass die Axone der Wirbeltiere so dünn sind und trotzdem die Erregung ungleich schneller weiterleiten als die teils sehr dicken Axone der Wirbellosen. Verantwortlich hierfür ist die Myelinscheide, die das Axon nicht nur isoliert, sondern auch für die hohe Geschwindigkeit der Erregungsleitung verantwortlich ist.
Bei einem marklosen Axon ist es ja so, dass ein Aktionspotenzial an einer bestimmten Stelle des Axons ein neues Aktionspotenzial in der benachbarten Region induziert. Dieses ruft dann wiederum ein Aktionspotenzial in der nächsten Region hervor und so weiter. Die so erzielte Geschwindigkeit ist schon recht beeindruckend, reicht aber für viele Zwecke nicht aus.
Bei einem myelinisierten Axon befinden sich die wichtigen spannungsgesteuerten Natrium-Kanäle nur in der Membran der Ranvierschen Schnürringe. Nur dort können Aktionspotenziale entstehen. Schauen wir uns nun mal an, wie das Membranpotenzial eines Axons mit vier Schwannschen Zellen aussieht:
Saltatorische Erregungsleitung am markhaltigen Axon durch Induktion neuer Aktionspotenziale
Autor: Ulrich Helmich 2020, Lizenz: siehe Seitenende.
An dem Schnürring, an dem gerade ein Aktionspotenzial herrscht, hat das Membranpotenzial einen Wert von +30 mV. Am rechts benachbarten "stromaufwärts" liegenden Schnürring kann man in diesem Augenblick ein Membranpotenzial von vielleicht -50 mV messen. Das Membranpotenzial liegt also deutlich über dem Wert im Ruhezustand. Diese überschwellige Depolarisierung am benachbarten Schnürring reicht zur Induktion eines neuen Aktionspotenzials völlig aus.
Das Aktionspotenzial "springt" also quasi von dem einen Schnürring zum nächsten Schnürring.
Die Zeitspanne für diesen "Sprung" ist sehr kurz, und wenn am benachbarten Schnürring das Aktionspotenzial entstanden ist, wird bereits am übernächsten Schnürring ein neues Aktionspotenzial induziert. Wegen dieser "Sprünge" nennt man diese Art der Erregungsweiterleitung auch saltatorische Erregungsleitung (salto = Sprung).
Geschwindigkeit der saltatorischen Erregungsweiterleitung
Wie wir bereits ganz oben auf dieser Seite gesehen haben, ist die Geschwindigkeit der Erregungsweiterleitung bei Wirbeltieren sehr hoch, bis zu 85 m/s und mehr. Beim Ischiasnerven des Menschen hat man sogar Geschwindigkeiten von bis zu 120 m/s gemessen [3].
Die Geschwindigkeit der Erregungsleitung bei myelinisierten Axonen hängt von drei Faktoren ab:
Dicke des Axons: Je dicker das Axon, desto größer die Geschwindigkeit. Genauer gesagt, die Geschwindigkeit der Erregungsleitung ist dem Durchmesser des Axons proportional. Doppelter Durchmesser = doppelte Geschwindigkeit. Bei marklosen Axonen ist die Geschwindigkeit der Erregungsleitung dagegen nur der Quadratwurzel des Axondurchmessers proportional. Für eine doppelte Geschwindigkeit muss das Axon hier also den vierfachen Durchmesser haben.
Dicke der Myelinschicht: Je dicker die Myelinschicht, desto höher die Geschwindigkeit der Erregungsleitung.
Breite der Ranvierschen Schnürringe: Je enger die Schnürringe, desto höher die Geschwindigkeit der Erregungsleitung.
"Die Isolationslücken wirken wie ein elektrischer Repeater oder Signalverstärker, der einen Impuls entlang des Axons von Schnürring zu Schnürring weiterleitet" [4].
Die beiden letzten Faktoren wurden erst vor einigen Jahren entdeckt. Sie scheinen eine wichtige Rolle bei der Steuerung von Lernprozessen im Gehirn zu haben. Wie man herausgefunden hat, kann die Dicke der Myelinschicht und die Breite der Ranvierschen Schnürringe im Gehirn stark variieren, und vor allem können sich diese Werte auch relativ schnell verändern, so dass Anpassungen an verschiedene Situationen möglich sind.
Wirbeltierneuronen haben also die saltatorische Erregungsleitung "erfunden", um das Problem zu lösen, dass große Bündel aus vielen Axonen (= Nervenfasern) viele Impulse (= Aktionspotenziale) möglichst schnell leiten müssen, ohne dabei übermäßig dick sein zu müssen, wie das bei marklosen Neuronen der Fall wäre.
Myelinscheiden bestehen aus mehreren Schwannschen Zellen, die die Axone mehrlagig umwickeln und dabei elektrisch isolieren. Die Ranvierschen Schnürringe zwischen den Schwannschen Zellen ermöglichen die saltatorische Erregungsleitung: Ein Aktionspotenzial an einem Schnürring induziert ein neues Aktionspotenzial am nächsten Schnürring. Die dabei erzielte Geschwindigkeit ist selbst bei sehr dünnen Axonen sehr groß.
Quellen:
- Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreizung. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. In: Monatsbericht der Königlichen Akademie der Wissenschaften, S. 71–73; hier: S. 71.
- Hermann von Helmholtz, Artikel in der Wikipedia, abgerufen am 6. September 2020.
- Spektrum-Lexikon der Biologie, Artikel "Erregungsleitung".
- R. Douglas Fields, "Wie das Gehirn lernt", Gehirn und Geist 9/2020.