Helmichs Biologie-Lexikon

Myelinscheide

Die Myelinscheide ist ein aus Schwannschen Zellen gebildeter Mantel, der das Axon einer Nervenzelle schützend und unterstützend umschließt.

Die Myelinscheide eines Axons besteht aus bis zu 500 Oligodendrocyten, auch als Schwannschen Zellen bezeichnet. Oligodendrocyten sind spezielle Gliazellen, die sich wie ein Lappen um das Axon mehrmals herumwickeln.

Die Myelinscheide eines Axons (gelb) besteht aus Schwannschen Zellen (blau), die sich um das Axon in mehreren Lagen herumgewickelt haben.
Quelle: Wikipedia, Autor: Autor: Gareth Jones
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In der Abbildung 1 sieht man einen Abschnitt des Axons, der von zwei Schwannschen Zellen "umwickelt" ist. Die vordere Schwannsche Zelle ist aufgeschnitten, so dass man besser in das Innere sehen kann. Den violett gezeichneten Zellkern dieser Zelle kann man gut erkennen. Die Lücken zwischen den Schwannschen Zellen, in denen das Axon quasi "nackt" vorliegt, werden als Ranviersche Schnürringe bezeichnet.

Das nächste Bild zeigt einen elektronenmikroskopischen Querschnitt durch ein myelinisiertes Axon:

siehe folgenden Text

Elektronenmikroskopische Aufnahme eines Axonquerschnitts mit der Myelinscheide
Quelle: Wikipedia, Autor:OpenStax
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Die Schwannsche Zelle hat das Axon acht- oder neunmal umwickelt, so genau kann man es auf dieser Aufnahme nicht erkennen.

siehe folgenden Text

Wachstum einer Schwannschen Zelle
Quelle: Wikipedia, Autor:OpenStax
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Dieses Bild zeigt das Herumwickeln einer Schwannschen Zelle um das Axon in drei Schritten. Beim Herumwickeln wird die Schwannsche Zelle immer länger und dabei flacher; das Cytoplasma wird aus den inneren Schichten regelrecht herausgequetscht, so dass der Innenbereich der Schwannschen Zelle praktisch nur noch aus den Zellmembranen besteht.

Zusammensetzung der Membranen der Myelinscheide

Die mehrfach gelagerten Membranen der Myelinscheide sind im Prinzip genau so aufgebaut wie eine normale Zellmembran. Allerdings ist der Lipidgehalt mit ca. 70-75% deutlich höher als bei normalen Zellmembranen [1]. Dies führt zu einer sehr niedrigen Dichte der Myelinmembran von nur 0,25 g/cm3. Normale Zellmembranen haben einen höheren Proteinanteil und daher auch eine höhere Dichte von ca. 1,2 bis 1,3 g/cm3. Wegen des hohen Lipidanteils sieht die Myelinscheide im Mikroskop meistens weiß aus, weswegen stark myelinisierte Nerven oft als "weiße Substanz" bezeichnet werden.

Ein wichtiges Protein der Myelinscheide ist das Myelin-Basische Protein (MBP), ein extrem basisches Protein mit 20 positiven Ladungen, das sich mit 18 Phospholipid-Molekülen verbindet [6].

Funktion der Myelinscheide
Isolierung

Zunächst kann man die Funktion der Myelinhülle mit der eines Isolators vergleichen. Sollen beispielsweise mehrere Kupferdrähte zusammen verlegt werden, so ist es ratsam, isolierte Kupferdrähte zu nehmen, weil es sonst zu Kurzschlüssen kommt. Ähnlich ist es, wenn sich zwei "nackte" Axone berühren würden; die Aktionspotenziale des einen Axons könnten Aktionspotenziale auf dem anderen Axon auslösen. Die Myelinscheide verhindert einen solchen Kurzschluss.

Beschleunigung

Aber die Myelinscheide hat eine viel wichtigere Funktion als die des Isolators. Durch die Myelinisierung wird die Geschwindigkeit, mit der Aktionspotenziale auf dem Axon weitergeleitet werden, um einen hohen Faktor beschleunigt. Die Leitungsgeschwindigkeit der Aktionspotenziale hängt von dem Durchmesser des Axons ab: Je größer der Durchmesser, desto höher die Leitungsgeschwindigkeit. In der Evolution ging daher bei wirbellosen Tieren der Trend zu immer dickeren Axonen. Spitzenreiter sind hier bestimmte Tintenfischarten (Loligo), bei denen die Axone so dick geworden sind, dass man sie sogar mit bloßem Auge sehen kann.

In der Fachliteratur habe ich ein schönes Zitat gefunden, das die Notwendigkeit der Myelinisierung ganz deutlich macht:

"Wären die Axone der Bahnen des Rückenmarks nicht myelinisiert, so müssten sie zur Erfüllung der gleichen Leistung den Durchmesser einer mehrere hundert Jahren alten Eiche aufweisen." [3]

Tatsächlich war die Entwicklung der Myelinscheide ein wichtiger Schritt in der Evolution der Wirbeltiere. Die Leistung des Nervensystems konnte drastisch gesteigert werden, ohne dass die Durchmesser der Axone ins Riesenhafte anwachsen mussten.

Die Ranvierschen Schnürringe zwischen den Schwannschen Zellen wirken "wie ein elektrischer Repeater oder Signalverstärker" [5]. Entsteht an einem Schnürring ein Aktionspotenzial, so entstehen elektrische Felder, die bis zu den benachbarten Schnürringen reichen. An dem "stromabwärts" gelegenen Schnürring passiert jetzt nichts, weil sich hier die spannungsgesteuerten Natriumkanäle noch in der Refraktärphase befinden. An dem "stromaufwärts" gelegenen Schnürring jedoch wird der für die Bildung von Aktionspotenzialen erforderliche Schwellenwert von ca. -50 mV überschritten, so dass dort quasi sofort ein neues Aktionspotenzial gebildet werden kann.

Myelinschichten können unterschiedlich stark sein. Je öfter sich die Schwannschen Zellen oder Oligodendrocyten-Ausläufer sich um das Axon herumwickeln, desto schneller können die Aktionspotenziale von Schnürring zu Schnürring springen [5].

Auch die Breite der Schnürringe spielt eine große Rolle bei der Weiterleitung der Erregung: Je schmaler die Schnürringe sind, desto schneller kann dort ein Aktionspotenzial entstehen [5].

Lernen und Gedächtnis

Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen haben die Myelinscheiden auch einen starken Einfluss auf unser Gedächtnis, unser Erinnerungsvermögen und unsere Lernfähigkeiten. Wie in dem Artikel "Wie das Gehirn lernt" im Septemberheft 2020 der Zeitschrift "Gehirn und Geist" nachzulesen ist, kann die Dicke der Myelinscheide von Gehirnregion zu Gehirnregion variieren [5]. Je dicker die Myelinscheide, desto besser isoliert ist das Axon und desto höher die die Geschwindigkeit, mit der Aktionspotenziale vom Soma zu den synaptischen Endknöpfchen wandern. Beim Lernvorgang nahm man bisher an, dass sich die Anzahl der Synapsen bzw. die Anzahl der ligandengesteuerten Ionenkanäle in der postsynaptischen Membran erhöht, wenn bestimmte Synapsen öfter "benutzt" werden als andere Synapsen. Inzwischen weiß man, dass dies nicht der einzige Mechanismus ist, mit dem das Gehirn "lernt". Auch die Dicke der Myelinscheiden kann zielgerichtet angepasst werden, so dass bestimmte "Bahnen" im Gehirn bevorzugt werden können.

Erkrankungen, die mit der Myelinscheide zusammenhängen

Ein krankhafter Abbau von Myelinscheiden ist die Ursache vieler neurologischer Erkrankungen, wird zumindest vermutet.

"Demyelination is the loss of the myelin sheath insulating the nerves, and is the hallmark of some neurodegenerative autoimmune diseases, including multiple sclerosisacute disseminated encephalomyelitisneuromyelitis opticatransverse myelitischronic inflammatory demyelinating polyneuropathyGuillain–Barré syndromecentral pontine myelinosis, inherited demyelinating diseases such as leukodystrophy, and Charcot–Marie–Tooth disease." [2]

Die bekannteste der in der engl. Wikipedia genannten Krankheiten ist sicherlich die Multiple Sklerose, eine Autoimmunerkrankung des Nervensystems. Bei dieser Krankheit werden die Myelinscheiden der Nervenzellen durch körpereigene Immunzellen angegriffen. Die Ursachen und die Mechanismen, die zu dieser Schädigung führen, sind aber noch nicht vollständig geklärt [4].

Quellen:

  1. deutsche Wikipedia, Artikel "Myelin", abgerufen am 10.07.2020
  2. englische Wikipedia, Artikel "Myelin: Demyelination", abgerufen am 10.07.2020
  3. Wilhelm Stoffel, "Die Myelinmembran des Zentralnervensystems — essentielle makromolekulare Strukturen und Funktion" in Angewandte Chemie, September 1990.
  4. deutsche Wikipedia, Artikel "Multiple Sklerose", abgerufen am 11.07.2020
  5. R. Douglas Fields, "Wie das Gehirn lernt", Gehirn und Geist 9/2020.
  6. Luckey, Membrane Structural Biology, 2. Auflage, Cambridge University Press 2014.