Helmichs Chemie-Lexikon

Nucleophilie (Vertiefungsseite)

Eine starke Lewis-Base ist nicht automatisch ein starkes Nucleophil. Beide Begriffe, Nucleophilie und Basizität, bezeichnen unterschiedliche Aspekte. Während die Nucleophilie ein kinetisches Maß für die Geschwindigkeit ist, mit der ein Nucleophil ein positives oder positiv polarisiertes C-Atom angreift, ist die Basizität eine thermodynamische Größe, welche die Lage des Gleichgewichts beschreibt, das sich ergibt, wenn eine Base ein Proton anlagert. Es gibt starke Basen, die auch starke Nucleophile sind, es gibt aber auch starke Basen, die schwache Nucleophile sind. Umgekehrt können schwache Basen starke Nucleophile sein.

Als Beispiel sollen einmal das Phenolat-Ion, das Bromid-Ion und das Thiophenolat-Ion dienen.

Vergleich von Nucleophilie und Basizität von drei Ionen

Das Phenolat-Ion und das Bromid-Ion sind beides mittelstarke Nucleophile, unterscheiden sich aber in ihrer Basizität. Phenol ist eine schwache Säure, folglich ist die konjugierte Base, das Phenolat-Ion, eine starke Base, gleichzeitig aber auch ein sehr starkes Nucleophil. Das Thiophenolat-Ion ist ein Beispiel für ein sehr starkes Nucleophil, das auch gleichzeitig eine ziemlich starke Base ist [1].

Faktoren, die die Nucleophilie beeinflussen

Stellung des Zentralatoms im Periodensystem

Lässt man Brom-ethan mit Ammoniak reagieren (Zentralatom = N), erfolgt die Substitution schneller, als wenn man Brom-ethan mit Wasser reagieren lässt. Das gilt auch für die konjuierten Basen. Eine Reaktion mit H2N- erfolgt sehr schnell, während die Reaktion mit OH- recht langsam verläuft. Fluorid-Ionen sind schwächer nucleophil als Hydroxid-Ionen.

Im PSE nimmt die Nucleophile innerhalb einer Periode von links nach rechts ab.

Vergleicht man die Nucleophilie der Halogenid-Ionen, so stellt man fest, dass Iodid-Ionen am stärksten nucleophil sind und Fluorid-Ionen am schwächsten. Auch sind SH--Ionen nucleophiler als OH--Ionen.

Das Trimethylphosphin P(CH3)3 reagiert in Methanol als Lösemittel schneller als das analoge Trimethylamin N(CH3)3. Eine der Ursachen dafür ist die Größe des Phosphor-Atoms, dadurch ist das Phosphin leichter polarisierbar als das Amin[3].

Im PSE nimmt die Nucleophilie innerhalb einer Gruppe von oben nach unten zu.

Solvationsenergie des Lösemittels

Ein Nucleophil ist entweder negativ geladen oder hat zumindest einen Abschnitt im Molekül, der negativ polarisiert ist. Solche negativen Bereiche im Molekül ziehen polare Lösemittel-Moleküle an. Man denke nur an die Hydrathüllen, die sich bilden, wenn man Bromid-Ionen in Wasser löst. Bevor nun ein Nucleophil sich an ein positiv polarisiertes C-Atom anlagern kann, muss die Hydrathülle oder allgemein Hülle aus Lösemitteln "gesprengt" werden.

"Sprengung" der Hydrathülle eines Nucleophils, bevor es das Carbenium-Ion angreifen kann

Die Desolvatation des Nucleophils kostet Energie
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.

Auf diesem Bild sehen wir das Bromid-Ion, das von einer Hydrathülle umgeben ist, und ein sekundäres Carbenium-Ion. Bevor das Bromid-Ion das Carbenium-Ion als Nucleophil angreifen kann, muss erst die Hydrathülle "gesprengt" werden, welche das Bromid-Ion umgibt. Da es auch viele andere Lösemittel gibt und nicht nur Wasser, spricht man allgemein von der Solvathülle, die aufgebrochen werden muss. Die dazu notwendige Energie wird als Desolvatisierungsenergie bezeichnet.

Nochmal Iodid vs. Fluorid

Mit Hilfe dieser Erkenntnis können wir nun auch erklären, wieso Iodid-Ionen stärker nucleophil sind als Fluorid-Ionen. Die Fluorid-Ionen sind sehr klein, haben aber trotzdem die gleiche Ladung wie die großen Iodid-Ionen. Die Ladungsdichte der Fluorid-Ionen ist daher deutlich größer als die Ladungsdichte der Iodid-Ionen. Das wiederum führt dazu, dass Fluorid-Ionen in wässriger Lösung eine sehr viel größere Hydrathülle haben als Iodid-Ionen. Und diese große Hydrathülle müssen die Fluorid-Ionen erst einmal loswerden, was gar nicht so einfach ist. Die Iodid-Ionen haben eine sehr viel kleinere bzw. schwächer gebundende Hydrathülle (größere Entfernung zum Atomkern), die sehr leicht abgegeben werden kann. Daher ist Iodid-Ionen sehr viel nucleophile als Fluorid-Ionen. Zumindest in Lösemitteln, die eine Solvathülle um das Ion bilden können.

Vergleich SN1 / SN2

Die SN1-Reaktion läuft in zwei Schritten ab, von denen der erste der geschwindigkeitsbestimmende ist. Hier spielt die Nucleophilie des Nucleophils nur eine untergeordnete Rolle.

Die SN2-Reaktion läuft dagegen in einem Schritt ab, dessen Geschwindigkeit von der Nucleophile des angreifenden Nucleophils beeinflusst wird. Hier spielen dann auch Lösemitteleffekte eine deutlich wichtigere Rolle als bei der SN1-Reaktion.

Protische vs. aprotische Lösemittel

Die eben gemachten Aussagen mit den Solvahüllen gelten vor allem für sogenannte protische Lösemittel.

Protisches Lösemittel

Eine Lösemittel, das in der Lage ist, Protonen abzugeben und Wasserstoffbrücken-Bindungen zu den gelösten Teilchen aufzubauen.

Aprotische Lösemittel können keine Protonen abgeben und oft auch keine H-Brücken zu den gelösten Teilchen aufbauen. Sie können aber trotzdem polar sein, also Dipolcharakter haben. Aceton ist ein Musterbeispiel für ein aprotisches Lösemittel. Ein in der chemischen Praxis ebenfalls häufig eingesetztes aprotisches Lösemittel ist Dimethylsulfoxid (DMSO).

Beispiel 1

Hier ein eindrucksvolles Beispiel für den Einfluss des Lösemittels auf die SN2-Reaktion von Iod-methan mit Chlorid-Ionen zu Chlor-Methan: Zunächst wird die Reaktion in dem Lösemittel Methanol durchgeführt, also einem protischen Lösemittel. Die gemessene Reaktionsgeschwindigkeit wird jetzt auf den Referenzwert 1 gesetzt. Führt man die gleiche Reaktion nun in Aceton als Lösemittel durch, hat die Reaktionsgeschwindigkeit den Wert 1.500.000 [2].

Beispiel 2

Ebenfalls sehr eindrucksvoll ist auch die Umkehrung der Nucleophilie in einem aprotischen Lösemittel. Weiter oben hatten wir gesehen, dass Iodid-Ionen wesentlich stärker nucleophil sind als Fluorid-Ionen. Diese Aussage gilt aber nur für protische Lösemittel. In einem aprotischen Lösemittel wie Aceton verhält es sich genau umgekehrt. Hier ist Fluorid ein deutlich stärkeres Nucleophil als Iodid.

Stärke der neuen R-Y-Bindung

Wenn das Nucleophil Y in der SN2-Reaktion die Verbindung R-X angreift, entsteht eine neue Bindung, nämlich die R-Y-Bindung. Wenn diese stärker ist als die alte R-X-Bindung, bildet sich ein recht stabiler Übergangszustand, was die Aktivierungsenergie dieses einen Schrittes senkt. Die Bindungsenergie R-Y ist also ein entscheidender Faktor für die Stärke eines Nucleophils. Je größer diese Bindungsenergie, desto schneller verläuft die Substitution. Da die Nucleophilie einer Base eine kinetische Größe ist, sich also auf die Reaktionsgeschwindigkeit bezieht, kann man also sagen, dass die Höhe der Bindungsenergie R-Y sich direkt auf die Nucleophilie von Y auswirkt.

Sterische Faktoren

Ein kleines Nucleophil kann sich besser an einen Stoff R-X anlagern als ein großes Nucleophil. Wenn große Alkylgruppen am nucleophilen Zentralatom "hängen", dann wird vor allem die SN2-Reaktion verlangsamt.

Einfluss sterischer Hemmung auf die Nucleophilie
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Das Anion des Methanols reagiert als Nucleophil viel schneller als beispielsweise das Anion des 2-Methyl-propan-2-ols. Vor allem der Rückseitenangriff bei der SN2 wird durch die sterische Hemmung verlangsamt.

Quellen:

  1. Carey, Sundberg: Organische Chemie - einweiterführendes Lehrbuch, Weinheim 1995.
  2. K. P. C. Vollhard, N.E. Schore: Organische Chemie. 6. Auflage, Weinheim 2020.
  3. Vorlesung Organische Chemie, Prof. Dyker 2012, Ruhr-Universität Bochum