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5. Radikalische Substitution

Allgemeines - Nomenklatur - phys. Eigenschaften - Konformationen - Radikalische Substitution

Inhaltsübersicht

5.1 Rekapitulation: Schulwissen

Rekapitulation Schulwissen - Studienvorbereitung - Was sagt die Fachliteratur? - Übungen

Grundkurs

Im Chemieunterricht haben Sie wahrscheinlich Brom oder Bromwasser zu Hexan oder Heptan gegeben und beobachtet, dass die Braunfärbung der Lösung verschwindet, wenn man das Reaktionsgefäß stark belichtet. Man stellt beispielsweise einen Erlenmeyerkolben mit dem Stoffgemisch auf einen Tageslichtprojektor. Bestrahlt man das Alkan-Brom-Gemisch mit blauem Licht, läuft die Reaktion deutlich schneller ab als bei Bestrahlung mit gelbem oder rotem Licht.

Schulversuch zur Bromierung von Heptan, Einfluss der Lichtfarbe.
Autor: Ulrich Helmich 2015, Lizenz: siehe Seitenende

Die Chlorierung von Methan läuft nach dem gleichen Reaktionsmechanismus ab, lässt sich aber leichter an der Tafel formulieren, da man nicht ständig sechs oder sieben C-Atome zeichnen muss. Es handelt sich um eine typische Kettenreaktion.

Startreaktion

In einer Startreaktion werden die Chlor-Moleküle durch Lichtenergie gespalten, man spricht hier auch von einer Photolyse (Spaltung durch Licht):

$Cl_2 \to 2 \ Cl\bullet$

Es entstehen Chlor-Radikale, die mit dem Alkan reagieren.

Kettenfortpflanzungsschritte

$Cl\bullet + \ H-CH_3 \to Cl-H + \bullet CH_3$

Im 1. Kettenfortpflanzungsschritt abstrahiert (entfernt) das Chlor-Radikal ein H-Atom aus dem Alkan, es bildet sich das Nebenprodukt Chlorwasserstoff HCl. Übrig bleibt ein Alkyl-Radikal, hier also das Methyl-Radikal.

Das Methyl-Radikal selbst ist ebenfalls sehr reaktiv und reagiert dann im 2. Kettenfortpflanzungsschritt mit einem neuen Chlor-Molekül:

$Cl_2 + \bullet CH_3 \to Cl\bullet + \ Cl-CH_3$

So entsteht ein neues Chlor-Radikal, dass dann wieder mit einem weiteren Alkan-Molekül reagiert und so weiter. Es handelt sich um eine sogenannte Kettenreaktion. Die Startreaktion bildet Radikale, und jedes Chlor-Radikal kann dann eine Reaktionskette aus 5000 oder mehr Zyklen starten. Jede Zyklus besteht aus den beiden oben erwähnten Kettenfortpflanzungsschritten.

Ein einziger Lichtquant, der ein Chlor-Molekül spaltet, kann bis zu 5.000 Zyklen dieser Kettenreaktion auslösen. Da bei der Spaltung eines Chlor-Moleküls zwei Radikale entstehen, hat die sogenannte Quanten-Ausbeute der Chlorierung den Wert 10.000.

Kettenabbruch

Gelegentlich wird eine solche Reaktionskette abgebrochen, nämlich immer dann, wenn zwei Radikale miteinander reagieren. Für diese Kettenabbruchreaktion gibt es bei der Methan-Chlorierung drei Möglichkeiten: Es können zwei Chlor-Radikale zusammenstoßen, zwei Methyl-Radikale oder ein Chlor-Radikal und ein Methyl-Radikal.

Monochlorierung und Mehrfachchlorierung

Nur wenn man sehr wenig Chlor zu dem Methan gibt, entsteht ausschließlich Chlormethan. Erhöht man die Chlor-Konzentration, erhält man auch mehrfach substituierte Methan-Derivate, nämlich Dichlormethan, Trichlormethan und schließlich Tetrachlormethan.

Bromierung

Die Bromierung von Methan oder anderen Alkanen verläuft analog, allerdings ist Brom lange nicht so reaktiv wie Chlor, daher verläuft die Reaktion nicht so explosiv. Auch Ethan, Propan und die anderen Alkane lassen sich chlorieren und bromieren. Beim Propan gibt es allerdings schon zwei verschiedene Monochlor- bzw. Monobrom-Produkte, denn sowohl ein primäres wie auch ein sekundäres H-Atom können substituiert werden.

Selektivität

Im Leistungskurs haben Sie sich vielleicht schon mit der Frage beschäftigt, wie die Chlorierung bzw. Bromierung bei längerkettigen und eventuell auch verzweigten Alkanen wie zum Beispiel Propan oder Methylpropan abläuft. Hier hat das Chlor- oder Brom-Radikal die Auswahl zwischen primären, sekundären und eventuell sogar tertiären H-Atomen, die es abstrahieren kann. Aufgrund der hohen Stabilität tertiärer Alkyl-Radikale entstehen dann hauptsächlich Reaktionsprodukte, bei denen das Halogen-Atom ein tertiäres H-Atom substituiert, wenn das möglich ist. Auch sekundäre H-Atome werden leichter substituiert als primäre. Bei der Bromierung ist diese Selektivität noch extremer ausgeprägt als bei der Chlorierung.

Schulwissen Radikalische Substitution

Wenn Sie nach dem Lesen dieses Abschnitts festgestellt haben, dass Ihnen doch noch einige Grundlagen fehlen, sollten Sie sich diese Seiten zur Radikalischen Substitution ansehen, die ich speziell für Schüler(innen) der gymnasialen Oberstufe (EF und Q1) geschrieben habe.

5.2 Vorbereitung auf das Chemie-Studium

Rekapitulation Schulwissen - Studienvorbereitung - Was sagt die Fachliteratur? - Übungen

Die Radikalische Substitution wird meistens ganz zu Beginn der Organik-Vorlesung behandelt, als erster großer Reaktionsmechanismus. Auch in den Hochschul-Lehrbüchern steht dieser Reaktionsmechanismus meistens am Anfang. Vorher kommen eher grundsätzliche Themen wie Atombau, chemische Bindung etc., aber dann fängt der eigentliche Organik-Teil mit den Alkanen und der Radikalischen Substitution an.

Der Grund für diese Vorzugsbehandlung der Radikalischen Substitution ist die Tatsache, dass man mit Hilfe dieser Reaktion funktionelle Gruppen in einen Kohlenwasserstoff einführen kann. Die Chlorierung eines Alkans führt zu einem Chloralkan. Das eingeführte Chlor-Atom kann dann durch weitere Reaktionen gegen andere Atome oder Atomgruppen ausgetauscht werden, zum Beispiel durch eine OH-Gruppe. Den so erhaltenen Alkohol kann man oxidieren oder auf andere Weise weiterreagieren lassen.

5.2.1 Selektivität als Phänomen

In den Vorlesungen und Lehrbüchern wird zunächst das Grundprinzip der radikalischen Kettenreaktion besprochen, so ähnlich, wie wir es im Teil 5.1 (Schulwissen) gemacht haben.

Im nächsten Schritt - und jetzt geht es über den üblichen Schulstoff hinaus - werden die Chlorierung und die Bromierung von Propan behandelt, im Clayden beispielsweise auf Seite 1081, im Buddrus schon ganz vorn auf Seite 85 (wie es sich eigentlich gehört!).

Chlorierung und Bromierung von Propan
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Beide Halogenierungen liefern zwei Reaktionsprodukte, nämlich 1-Chlor-propan / 1-Brom-propan und 2-Chlor-propan / 2-Brom-propan.

Interessant sind nun die offensichtlichen Abweichungen der prozentualen Produkt-Anteile von den statistischen Erwartungen. An sich sollte man doch denken, dass 75% 1-Chlor-propan bzw. 1-Brom-propan entstehen, denn es können ja sechs primäre, aber nur zwei sekundäre H-Atome durch Halogen-Atome ersetzt werden.

Statt der erwarteten 75% 1-Chlor-propan findet man jedoch nur 45%, und statt der erwarteten 75% 1-Brom-propan erhält man sogar nur lachhafte 4%.

An dieser Stelle wird in den Vorlesungen und Fachbüchern meistens der Begriff der Selektivität eingeführt. Darunter versteht man das Phänomen, dass ein Reaktionsprodukt häufiger entsteht, als es rein statistisch zu erwarten wäre.

Besonders auffällig ist die Selektivität bei der Bromierung. Statistisch würde man nur 25% 2-Brom-propan erwarten, im Experiment findet man aber 96%. Die Bromierung verläuft also extrem selektiv.

Oft wird dann in den Vorlesungen oder in den Lehrbüchern eine Tabelle präsentiert, die ungefähr so aussieht:

  primär sekundär tertiär
Fluorierung 1 1,2 1,4
Chlorierung 1 3,7 5,0
Bromierung 1 72 890

Diese Zahlen stammen übrigens aus dem Lehrbuch von Buddrus [4].

Bei der Chlorierung lässt sich ein sekundäres H-Atom im Schnitt 3,7 mal leichter (schneller) abstrahieren als ein primäres H-Atom. Für ein tertiäres H-Atom ergibt sich sogar ein Geschwindigkeits-Zuwachs von Faktor 5. Die Chlorierung ist also eindeutig selektiv, es werden tertiäre H-Atome bevorzugt abstrahiert.

Bei der Bromierung ist diese Selektivität noch viel ausgeprägter. Hier werden tertiäre H-Atome 890 mal so schnell abstrahiert wie primäre.

Wenn die Studierenden all dies verstanden haben, folgen meistens ein paar Übungen wie zum Beispiel die folgende:

Aufgabe

Berechnen Sie die prozentualen Anteile der Reaktionsprodukte bei der Monochlorierung von Methylbutan.

Lösung:

Zunächst zeichnen wir uns das Molekül einmal auf, benennen die Produkte und berechnen die statistischen Anteile:

Nun werden die statistischen Anteile (6, 3, 2 und 1) mit den Faktoren der obigen Tabelle multipliziert:

  • 1-Chlor-2-methyl-butan = 6 * 1 = 6 Teile
  • 1-Chlor-3-methyl-butan = 3 * 1 = 3 Teile
  • 2-Chlor-3-methyl-butan = 2 * 3,7 = 7,4 Teile
  • 2-Chlor-2-methyl-butan = 1 * 5 = 5 Teile

Zusammen sind das 21,4 Teile. Daraus kann man nun die prozentualen Anteile der vier Produkte im Produktgemisch berechnen:

  • 1-Chlor-2-methyl-butan = 28,04%
  • 1-Chlor-3-methyl-butan = 14,02%
  • 2-Chlor-3-methyl-butan = 34,58%
  • 2-Chlor-2-methyl-butan = 23,36%
5.2.2 Ursachen der Selektivität

Wenn man nach den Ursachen dieser Selektivität recherchiert, findet man in allen Lehrbüchern eine Tabelle mit den Bindungsdissoziationsenergien von kovalenten Bindungen.

  1. Primäre C-H-Bindung: 423 kJ/mol
  2. Sekundäre C-H-Bindung: 414 kJ/mol
  3. Tertiäre C-H-Bindung: 404 kJ/mol

Offensichtlich lassen sich tertiäre C-H-Bindungen leichter spalten als sekundäre, und diese wiederum leichter als primäre.

Nachdem man diese Frage geklärt hat, stellt sich automatisch die nächste Frage:

Wieso ist die Bindungsdissoziationsenergie bei tertiären C-H-Bindungen kleiner als bei sekundären beziehungsweise primären?

In einem Chemie-LK würde man, falls man überhaupt so weit kommt, den positiven induktiven Effekt der Alkylgruppen als Begründung anführen.

Der +I-Effekt als Begründung

Alkylgruppen zeichnen sich durch einen +I-Effekt aus, das heißt, sie "schieben" Elektronendichte von sich weg. Betrachten wir nun ein tertiäres Alkyl-Radikal. Das radikalische C-Atom mit seinem einfach besetzten pz-Orbital "leidet" ja unter Elektronenmangel, es "möchte" gern zwei Elektronen in jedem Orbital haben (Oktettregel). Jede Alkylgruppe, die nun ein bisschen Elektronendichte in das einfach besetzte pz-Orbital hineinschiebt, verringert diesen Elektronenmangel. Je mehr Alkylgruppen an diesem C-Atom sitzen, desto weniger Elektronenmangel herrscht in dem pz-Orbital, und desto stabiler ist das Radikal. Je stabiler ein Radikal aber ist, desto leichter kann es auch gebildet werden.

Vier Alkyl-Radikale. Die blauen Pfeile deuten den elektronenschiebenden +I-Effekt an.
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Das ist der Grund dafür, dass tertiäre H-Atome leichter abstrahiert werden können als sekundäre oder primäre.

Im Chemie-Studium wird Ihnen eine weitere Erklärung für die größere Stabilität von tertiären Kohlenstoff-Radikalen präsentiert werden, nämlich das Phänomen der Hyperkonjugation.

Hyperkonjugation als Begründung

Betrachten wir dazu das folgende Bild:

Hyperkonjugation stabilisiert pz-Orbitale
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Links sehen wir ein Ethyl-Radikal. Das pz-Orbital des radikalischen C-Atoms ist blau gekennzeichnet und enthält ein Elektron (die beiden Orbitallappen sind auf diesem Bild in der gleichen Farbe dargestellt). Das bindende Orbital zwischen dem anderen C-Atom und einem der drei H-Atome ist rötlich dargestellt. Diese kovalente Bindung enthält - wie üblich - zwei Elektronen. Der schwarze Doppelpfeil deutet nun an, dass die Elektronen dieser kovalenten C-H-Bindung zum Teil mit dem pz-Orbital des anderen C-Atoms wechselwirken und so die Elektronendichte in diesem pz-Orbital erhöhen.

Rechts im Bild sehen wir das sekundäre Propyl-Radikal. Hier kann das pz-Orbital sogar mit zwei C-H-Bindungen überlappen, die Elektronendichte in dem pz-Orbital wird also stärker erhöht als in dem primären Ethyl-Radikal. Und bei einem tertiären Alkyl-Radikal kann das pz-Orbital sogar mit drei s-sp3-Bindungen überlappen, so dass die Elektronendichte hier noch mehr erhöht wird.

So, nun könnte man denken, wir wären schon fertig mit den hochschulmäßigen Erklärungen zur Selektivität bei der Radikalischen Substitution. Leider nein! Betrachten Sie doch bitte noch einmal die folgende Tabelle:

  primär sekundär tertiär
Fluorierung 1 1,2 1,4
Chlorierung 1 3,7 5,0
Bromierung 1 72 890

Aufgabe:

Welches Phänomen haben wir bisher noch nicht geklärt?

Antwort:

Das Ausmaß der Selektivität hängt von dem Halogen ab, mit dem die Radikalische Substitution durchgeführt wird. Bei der Fluorierung findet man so gut wie gar keine Selektivität, bei der Chlorierung ist sie deutlich vorhanden, und bei der Bromierung sogar extrem!

5.2.3 Die Selektivität hängt von dem Halogen ab

Wie kann man nun dieses Phänomen erklären?

Eine einfache Erklärung (die im Grunde sogar nicht ganz falsch ist) könnte so aussehen:

Einfache Erklärung (auch für gute Chemie-Kurse geeignet)

Das Fluor-Radikal ist derart reaktiv, dass es ihm "völlig egal" ist, ob es ein tertiäres, sekundäres oder primäres H-Atom abstrahiert. Fluor-Radikale schaffen es sogar, C-C-Einfachbindungen in den Alkan-Molekülen aufzubrechen, so reaktiv sind sie.

Das Chlor-Radikal ist nicht so reaktiv wie das Fluor-Radikal. Es kann daher nicht jede C-H-Bindung gleich schnell aufbrechen. Am schnellsten geht das mit tertiären C-H-Bindungen, am langsamsten mit primären, und noch langsamer mit den C-H-Bindungen des Methan-Moleküls. Dieser Effekt wird dann in einer deutlichen Selektivität sichtbar.

Das Brom-Radikal ist am wenigsten reaktiv von allen drei Radikalen. Bei niedrigen Temperaturen ist es kaum noch in der Lage, ein primäres H-Atom zu abstrahieren. Ein sekundäres H-Atom kann schon leichter abgetrennt werden, und bei tertiären H-Atomen ist die Bindungsdissoziationsenergie so gering, dass auch ein Brom-Radikal kein Problem mit einer Bindungsspaltung hat.

Fachlich korrekte Erklärung (für das Chemie-Studium)

Und wieder beginnen wir mit einer kleinen Bild-Betrachtung:

Übergangszustände der Alkan-Bromierung und -Fluorierung
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende

Diese ältere Abbildung zeigt den Übergangszustand des ersten Kettenfortpflanzungsschrittes bei der Bromierung (links) bzw. der Fluorierung (rechts) eines Alkans.

Aufgabe

Was fällt Ihnen auf, wenn Sie die beiden Übergangszustände vergleichen?

Antwort:

Der erste Kettenfortpflanzungsschritt der Bromierung ist endotherm, die Aktivierungsenergie ist daher recht groß, und der Schritt müsste daher recht langsam ablaufen.

Bei der Fluorierung ist der erste Kettenfortpflanzungsschritt exotherm, entsprechend niedrig ist die Aktivierungsenergie, und der Reaktionsschritt verläuft recht schnell.

Das war eine sehr schöne Antwort, aber ein kleines Detail haben wir noch übersehen. Achten Sie auf die blau gezeichneten Strukturen über den Aktivierungsbergen.

Beim Übergangszustand der Bromierung befindet sich das H-Atom näher am Halogen-Atom als beim Übergangszustand der Fluorierung. Hier befindet sich das H-Atom noch mehr in der Nähe des C-Atoms.

Wenn man sich die Abbildung genau ansieht, wird einem der Grund dafür sofort klar.

Bei der Bromierung liegt der Gipfel des Aktivierungsbergs ziemlich weit rechts, in der Nähe der Produkte. Das heißt, der Übergangszustand ähnelt den Produkten mehr als den Edukten. Die Produkte des ersten Kettenfortpflanzungsschritts sind HBr und das Alkyl-Radikal. Und tatsächlich sieht man, dass das H-Atom sich bereits näher am Br-Atom befindet als noch am C-Atom.

Bei der Fluorierung liegt der Gipfel des Aktivierungsbergs ziemlich weit links, also noch in der Nähe der Edukte. Der Übergangszustand ähnelt den Edukten mehr als den Produkten. Die Edukte des ersten Kettenfortpflanzungsschritts sind das Fluor-Radikal und das Alkan-Molekül. Und tatsächlich sieht man, dass das H-Atom sich noch näher am C-Atom befindet als am F-Atom.

Und nun kommt eine wichtige Erkenntnis, die auch als Hammond-Postulat zusammengefasst werden:

Hammond-Postulat: Bei endothermen Reaktionen ähnelt der Übergangszustand den Produkten, bei exothermen Reaktionen den Edukten.

Dieses Postulat hat nun direkte Auswirkungen auf die Übergangszustände der Halogenierung. Die Faktoren, die das entstehende Alkyl-Radikal stabilisieren (+I-Effekt, Hyperkonjugation), stabilisieren bei einer endothermen Reaktion auch den Übergangszustand, da dieser nach dem Hammond-Postulat ja den Produkten (Alkyl-Radikal) ähnelt.

Bei der Fluorierung liegt der Übergangszustand des ersten Kettenfortpflanzungsschrittes eher in der Nähe der Ausgangsstoffe. Faktoren, die das Alkyl-Radikal stabilisieren, wirken sich so gut wie gar nicht auf den Übergangszustand aus. Primäre H-Atome werden daher nahezu genau so gut bzw. schnell abstrahiert wie sekundäre oder tertiäre.

Bei der Bromierung liegt der Übergangszustand eher in der Nähe der Produkte. Die Faktoren, die das Alkyl-Radikal stabilisieren, stabilisieren auch den Übergangszustand. Daher werden tertiäre Radikale bei der Bromierung viel leichter gebildet als sekundäre oder primäre.

Je größer die Reaktivität, desto kleiner die Selektivität
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende

Hier zum Abschluss noch einmal eine anschauliche Darstellung des Zusammenhangs zwischen Selektivität und Reaktivität: Je reaktiver die Halogenierung, desto weniger selektiv ist sie.

Hammond-Postulat

Auf dieser Lexikonseite erfahren Sie noch etwas mehr über das Hammond-Postulat. Obwohl - viel mehr als auf dieser Seite finden Sie dort auch nicht.

Fluorierung und Iodierung

Auf dieser Vertiefungsseite wird dargelegt, warum die Fluorierung von Alkanen zwar funktioniert, aber nicht ratsam ist, und wieso die direkte Iodierung meistens nicht gelingt und welche Alternativen es dazu gibt.

Radikale in der MO-Theorie

Diese Vertiefungsseite ist etwas für Spezialisten. Hier wird mit Hilfe der Molekülorbital-Theorie (MO-Theorie) erklärt, was eigentlich bei der Photolyse von Chlor- oder Brom-Molekülen passiert.

5.2.4. Thermodynamische und kinetische Kontrolle

Jetzt müssen wir noch zwei Fachbegriffe besprechen, die im Chemie-Studium immer wieder vorkommen. Was versteht man unter thermodynamischer bzw. kinetischer Kontrolle einer Reaktion?

A: Kinetische Kontrolle, B: Thermodynamische Kontrolle
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende

Betrachten wir dazu die beiden Energiediagramme A und B. Bei B ist die Aktivierungsenergie des ersten Schrittes höher als bei A, dafür ist die Reaktionsenthalpie bei B insgesamt negativer als bei A.

Man könnte also A charakterisieren als exotherme Reaktion mit niedriger Aktivierungsenergie, und B als stärker exotherme Reaktion mit hoher Aktivierungsenergie.

Nun nehmen wir einmal an, A und B sind Konkurrenzreaktionen. Die Edukte sind bei A und B also gleich, aber es entstehen unterschiedliche Produkte.

Beispiele für solche Konkurrenzreaktionen haben wir ja bei der Alkan-Halogenierung zur Genüge kennen gelernt. Bei der Bromierung von Propan entstehen zwei Produkte, nämlich 1-Brompropan und 2-Brompropan. Beide Reaktionen laufen gleichzeitig ab und konkurrieren um das Brom.

Die Konkurrenzreaktionen bei niedrigen Temperaturen

Bei niedrigen Temperaturen verlaufen beide Reaktionen generell langsamer als bei hohen Temperaturen, das sagt zumindest die RGT-Regel. Allerdings verläuft der geschwindigkeitsbestimmende Schritt (stets der langsamste Schritt einer Reaktion) der Reaktion A etwas schneller als der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der Reaktion B. Bei niedrigen Temperaturen wird also Reaktion A insgesamt schneller ablaufen, es entstehen bevorzugt die Reaktionsprodukte von A.

Die Konkurrenzreaktionen bei hohen Temperaturen

Bei hohen Temperaturen, wenn also jede Menge thermischer Energie zur Verfügung steht, spielt die Höhe der Aktivierungsenergie so gut keine Rolle mehr für den Verlauf der Reaktion, es ist genug Energie da, um auch hohe Aktivierungsberge zu überwinden. Jetzt wird die Reaktion bevorzugt, bei der die freigesetzte Reaktionsenthalpie größer ist, in unserem Fall also die Reaktion B.

Thermodynamische und kinetische Kontrolle

Wenn der Verlauf einer Reaktion von der Aktivierungsenergie des geschwindigkeitsbestimmenden Schrittes abhängt, spricht man von kinetischer Kontrolle. Eine kinetische Kontrolle liegt meistens bei niedrigen Temperaturen vor.
Das Gegenteil von kinetischer Kontrolle ist die thermodynamische Kontrolle. Eine thermodynamische Kontrolle liegt vor, wenn der Verlauf der Reaktion von der Reaktionsenthalpie bestimmt wird. Eine thermodynamische Kontrolle liegt meistens bei hohen Temperaturen vor.

5.3 Was sagt die Fachliteratur?

Rekapitulation Schulwissen - Studienvorbereitung - Was sagt die Fachliteratur? - Übungen

Als Ursachen für die unterschiedliche Stabilität der Alkyl-Radikal werden einmal die Hyperkonjugation aufgeführt, zum anderen sterische Effekte.

Wenn ein Alkyl-Radikal gebildet wird, findet eine Umhybridisierung des radikalischen C-Atoms von sp3 nach sp2 statt. Dabei verändern sich die Bindungswinkel von tetraedrischen 109 Grad zu planaren 120 Grad. Im planaren (radikalischen) Zustand sind die Alkyl-Gruppen, die an dem C-Atom hängen, weiter voneinander entfernt als im tetraedrischen Zustand. Große Alkyl-Gruppen stoßen sich gegenseitig ab. Beim Übergang von sp3 nach sp2 wird diese Abstoßung jedoch etwas verringert. Je mehr Alkyl-Gruppen an dem radikalischen C-Atom hängen und je größer diese Alkyl-Gruppen sind, desto stärker wirkt sich dieser sterische Effekt auf die Stabilität des Radikals aus.

Die meisten Fachbücher begnügen sich nicht mit der einfachen Halogenierung durch Chlor- oder Brom-Moleküle. Es werden alternative Mechanismen vorgestellt, mit denen Halogen-Atome in ein Alkan eingeführt werden können. Ein Beispiel hierfür ist die Chlorierung mit Sulfurylchlorid.

Weitere Themen, die in Büchern wie zum Beispiel dem Buddrus behandelt werden:

  • Halogenierung von Alkenen in Allylstellung
  • Chlorierung von Alkanen in Gegenwart von Schwefeldioxid
  • Oxidation mit molekularem Sauerstoff
  • Pyrolyse von Alkanen

5.4 Übungen

Rekapitulation Schulwissen - Studienvorbereitung - Was sagt die Fachliteratur? - Übungen

Die folgenden Übungen wurden in Anlehnung an die Aufgaben, Übungen etc. der unten aufgeführten Fachbücher erstellt.

Die Sternchen an den Aufgaben deuten den Schwierigkeitsgrad an:

  • * = sehr leicht, auch für gymnasiale Oberstufe geeignet
  • ** = einigermaßen leicht, LK-Leute sollten das noch hinbekommen
  • *** = das ist schon recht anspruchsvoll, gut geeignet für Erstsemester und Studieninteressierte
  • **** = da hätte ich selbst schon Probleme, wenn ich die Aufgabe ohne weitere Hilfsmittel lösen sollte.
  • ***** = hier schwitzen wahrscheinlich auch promovierte Fachleute.

Aufgabe 5.1*

Berechnen Sie die prozentualen Anteile der Monochlorierungsprodukte von Methylbutan.

Aufgabe 5.2*

Nennen Sie zwei Gründe, warum man in der chemischen Industrie Alkane meistens chloriert, aber nur selten bromiert.

Für die nächsten beiden Aufgaben benötigen wir noch eine paar Daten, die im Text noch nicht erwähnt wurden, nämlich die Aktivierungsenergien der Kettenfortpflanzungsschritte der Chlorierung und der Bromierung.

  Kettenfortpflanzungsschritt 1 Kettenfortpflanzungsschritt 2
Chlorierung 17 kJ/mol > 0 kJ/mol
Bromierung 82 kJ/mol > 0 kJ/mol

Die Reaktionsenthalpien der beiden Kettenfortpflanzungsschritt stehen in der nächsten Tabelle:

  Kettenfortpflanzungsschritt 1 Kettenfortpflanzungsschritt 2
Chlorierung 8 kJ/mol -113 kJ/mol
Bromierung 75 kJ/mol -100 kJ/mol

Kommen wir nun zu den nächsten Aufgaben.

Aufgabe 5.3**

Zeichnen Sie die Energiediagramme für die Chlorierung und für die Bromierung von Ethan maßstabsgerecht auf.

Aufgabe 5.4**

Man stellt ein Gasgemisch aus 0,1 mol Chlor und 0,1 mol Brom her und lässt dieses Gemisch mit einem Überschuss an Ethan reagieren, so dass nur Monochlor- bzw. Monobromprodukte entstehen.

Ermitteln Sie, welche Reaktionsprodukte in welchen Anteilen entstehen.

Aufgabe 5.5***

Pentan wird mit einer kleinen Menge Brom versetzt, so dass fast ausschließlich Monobromierungsprodukte gebildet werden.

a) Berechnen Sie die prozentualen Anteile der Monochlorierungsprodukte

b) Wir betrachten nun das Hauptprodukt der Monobromierung und seine Konformationen. Zeichnen Sie die Newman-Projektionen für die gestaffelten Konformationen, die sich aus einer Rotation um die C2-C3-Bindung ergeben.

c) Begründen Sie dann, welche der drei gestaffelten Konformationen die energieärmste ist. Beachten Sie dabei, dass ein Brom-Atom kleiner ist als eine Methylgruppe.

Für die nächsten beiden Aufgaben müssen Sie sich zunächst die folgende Graphik anschauen:

Graphik zu den Aufgaben 5.6 und 5.7
Autor: Ulrich Helmich 2023, Lizenz: siehe Seitenende

Die waagerechte Achse des Diagramms zeigt die kinetische Energie EKin von Teilchen, und die senkrechte Achse zeigt die Anzahl der Teilchen, die gerade diese Energie besitzen. Die kinetische Energie eines Teilchens berechnet sich aus der Masse m und der Geschwindigkeit v des Teilchens, es gilt $E_{kin} = mv^2$. Die drei senkrechten Linien stehen für die Aktivierungsenergien, die für die Abstraktion tertiärer, sekundärer bzw. primärer H-Atome aus einem Alkan-Molekül aufzuwenden sind.

Aufgabe 5.6**

a) Beschreiben Sie allgemein die obige Abbildung und die Erkenntnisse, die man aus dem Verlauf der beiden Graphen ziehen kann.

b) Analysieren Sie, welche Auswirkungen eine Temperaturerhöhung auf die Selektivität der Radikalischen Substitution hat.

In der nächsten Aufgabe geht es ebenfalls um die Selektivität bei der Radikalischen Substitution.

Aufgabe 5.7***

Ein 1:1-Gemisch aus 2-Chlor-2-methyl-pentan und 2-Iod-2-methyl-pentan wird mit Bromwasser versetzt und belichtet.

Unter anderem bilden sich die sekundären Reaktionsprodukte 3-Brom-2-chlor-2-methyl-pentan und 3-Brom-2-iod-methyl-pentan.

Eines dieser beiden Produkte bildet sich wesentlich schneller und hat damit einen höheren prozentualen Anteil im Produktgemisch. Ermitteln Sie, welches Produkt sich schneller bildet und begründen Sie Ihre Meinung.

Aufgabe 5.8***

Die Tabelle enthält Daten zur Selektivität von Halogenen bei der Radikalischen Substitution verschiedener H-Atome bei unterschiedlichen Temperaturen.

Fassen Sie die Aussagen dieser Tabelle zusammen und begründen Sie die Abhängigkeit der Selektivität von den einzelnen Faktoren.

Aufgabe 5.9***

Unter einer "synthetisch nützlichen Reaktion" versteht man in der industriellen Chemie eine Reaktion, bei der hauptsächlich ein Hauptprodukt mit hoher Ausbeute entsteht und möglichst wenig Nebenprodukte. Und wenn schon Nebenprodukte entstehen, so sollte man diese leicht vom Hauptprodukt abtrennen können.

Beurteilen Sie nun bitte, ob die Chlorierung von Methyl-cyclopentan bei 25 ºC eine synthetisch nützliche Reaktion ist.

Aufgabe 5.10*** - ****

a) Recherchieren Sie die Struktur des Insektizids DDT.

b) Beurteilen Sie, ob man DDT durch radikalische Chlorierung aus der Verbindung 1,1-Diphenyl-ethanherstellen kann. Berücksichtigen Sie dabei auch ökonomische Aspekte (relative Ausbeute von DDT).

Quellen und Literatur-Empfehlungen:

  1. VollhardT, Schore: Organische Chemie. 6. Auflage, Weinheim 2020.
  2. Morrison, Boyd, Bhattacharjee: Organic Chemistry. 7. Auflage, Dorling Kindersley 2011.
  3. J. Clayden, N. Greeves, S. Warren: Organische Chemie. Berlin 2013.
  4. Buddrus, Schmidt, Grundlagen der Organischen Chemie, 5. Auflage, De Gruyter-Verlag 2014.

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