Helmichs Biologie-Lexikon

Hardy-Weinberg-Gleichgewicht

Die Häufigkeiten (Frequenzen) der Allele, die ein bestimmtes Merkmal codieren, streben im Laufe der Generationen einen Gleichgewichtszustand an. Das wollen wir hier mit einer einfachen Modellrechnung nachweisen.

Modellvorstellung

Unsere Modell-Population soll 500 Tiere umfassen. 150 Tiere haben den Genotyp bw, 250 Tiere den Genotyp bb und 100 Tiere den Genotyp ww. Dabei soll b = braun bedeuten und w = weiß. Es soll sich um einen intermediären Erbgang handeln, so dass drei Phänotypen in der Population existieren: bb = dunkelbraun, bw = hellbraun und ww = weiß.

Das Allel b kommt jetzt in 650 Exemplaren in der Population vor, das Allel w zu 350 Exemplaren. Bei 500 Tieren mit je zwei Allelen sind ja insgesamt 1000 Exemplare vorhanden.

Die Allelfrequenz von b ist dann p = 650/1000 = 0,65, die Allelfrequenz von w ist q = 350/1000 = 0,35. In Prozent ausgedrückt, wären das 65% bzw. 35%.

Die Individuen dieser Population sollen sich nun in jedem Frühjahr unbegrenzt miteinander fortpflanzen können. "Unbegrenzt" heißt hier, dass jeder Genotyp die gleichen Fortpflanzungschancen hat, die gleiche Fitness.

Modellvorstellung, Fortsetzung

Wir geben jetzt gedanklich sämtliche Allele der Population in einen großen Behälter. In diesem Behälter befinden sich dann 650 Exemplare des b-Allels und 350 Exemplare des w-Allels. Bei der sexuellen Fortpflanzung werden diese Allele nun paarweise neu kombiniert. Wir berechnen nun die Wahrscheinlichkeiten, mit der jeweils zwei Allele kombiniert werden können.

W(bb) = p2 = 0,652 = 0,4225

W(ww) = q2 = 0,352 = 0,1225

W(bw) = p*q = 0,65 * 0,35 = 0,2275

W(wb) = p*q = 0,65 * 0,35 = 0,2275

Allgemein kann man sagen, dass die Wahrscheinlichkeit der Keimzellenbildung dem Gesetz

p2 + 2pq + q2

gehorcht. In der Tochter-Generation werden also 42,25% der Tiere den Genotyp bb haben, 12,25% den Genotyp ww und 45,5% den heterozygoten Genotyp wb bzw. bw, was ja im Prinzip dasselbe ist; vorausgesetzt, die w- bzw. b-Allele von väterlicher und mütterlicher Seite unterscheiden sich nicht.

Die Allelfrequenzen in der Folge-Generation unterscheiden sich jetzt deutlich von denen der Mutter-Generation.

Modellvorstellung, Fortsetzung

Bei einer Tochter-Population von 1000 Tieren kommt das b-Allel 2*422,5 + 455 = 1300 mal vor, die Allelfrequenz p liegt also bei 0,65 (1300 von 2000 Allelen insgesamt). Da der Wert von q immer gleich 1-p ist, muss q den Wert 0,35 haben.

Das sind aber genau die gleichen Allelfrequenzen wie in der Elterngeneration.

Die Allelfrequenzen haben sich also beim Übergang von der Mutter- zur Tochter-Generation nicht geändert. Diesen Sachverhalt bezeichnet man als Hardy-Weinberg-Regel, -Gesetz oder -Gleichgewicht. Dabei ist der Begriff "Gleichgewicht" eigentlich am treffendsten.

Der Campbell [1] vergleicht diesen Sachverhalt, dass die Allelfrequenzen einer Population, die sich im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht befindet, über die Generationen konstant bleiben, mit einem Kartenspiel.

In einem Skat-Spiel kommen immer vier Buben, vier Damen und vier Könige vor. Egal, wie man die Karten nun mischt, ändert sich an diesen Verhältnissen nichts. Es entstehen keine neuen Buben, Damen oder Könige, noch werden welche beim Mischen vernichtet. Und genauso ist das mit den Allelen einer Population. Weder entstehen neue Allele, noch verschwinden Allele aus der Population.

Zumindest gilt das für ideale Populationen. Reale Populationen sind dagegen einem ständigen Selektionsdruck ausgesetzt und durchlaufen langfristig eine Evolution. Selektion heißt aber nichts anderes, dass sich Allelfrequenzen verändern und somit das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht aus dem Gleichgewicht bringen.

Bedingungen für das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht [1]

Keine Mutationen

Ich hatte ein paar Zeilen zuvor geschrieben, dass in einer Population keine neuen Allele entstehen. Das gilt aber nur für ideale Populationen, die es im Grunde gar nicht gibt. Bei den Individuen realer Populationen treten dauernd irgendwelche Mutationen in den Genen auf, von denen die meisten harmlos sind und die Fitness des Trägers nicht beeinträchtigen. Solche Mutationen werden in der Evolutionsbiologie als neutrale Mutationen bezeichnet. Die wenigsten Mutationen sind schädlich für das Individuum, noch weniger Mutationen vorteilhaft.

Zufällige Paarungen

Wenn weiße Männchen bei der Paarung immer nur weiße Weibchen bevorzugen, dann gilt das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht nicht mehr. Die Allele werden nicht mehr zufällig durchmischt, und dadurch verändern sich die Allelfrequenzen.

Keine Selektion

Alle Alle müssen den Trägern die gleiche Fitness bescheren. Haben die ww-Tiere zum Beispiel einen größeren Fortpflanzungserfolg als die bb-Tiere, wird sich die Frequenz des w-Allels im Laufe der Generationen immer mehr erhöhen.

Große Population

Das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht gilt nur für große Populationen. Das liegt an der sogenannten Gendrift. Bei kleinen Populationen kann es sein, dass durch zufällige Ereignisse die Träger bestimmter Allele abwandern oder ausgelöscht werden. Bei großen Populationen fallen solche Ereignisse nicht so stark ins Gewicht.

Kein Genfluss

Die Population muss von anderen Populationen der gleichen Art isoliert sein, Paarungen mit Tieren (oder Pflanzen) anderer Populationen dürfen nicht stattfinden. Auch dürfen keine Individuen aus anderen Populationen einwandern oder Individuen aus der Population auswandern.

Jede Abweichung von diesen fünf Bedingungen kann zu Evolutionsprozessen führen, bei denen sich die Allelfrequenzen ändern.

In unserem Modellbeispiel haben wir allerdings nur ein einziges Gen mit zwei Allelen berücksichtigt. Pflanzen und Tiere haben zehntausende solcher Gene. Viele dieser Gene bzw. deren Allele befinden sich durchaus ständig im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht, weil sie nicht der Selektion ausgesetzt sind.

Anwendung in der Evolutionsbiologie

Was kann man nun mit den Aussagen des Hardy-Weinberg-Gleichgewichts anfangen? Ganz einfach: Wir kehren die oben genannten fünf Regeln einfach um. Sobald man feststelle, dass sich ein bestimmtes Gen nicht im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht befindet, ist eine der fünf Bedingungen verletzt und mit hoher Wahrscheinlichkeit laufen in der Population gerade evolutive Prozesse ab.

Anwendung in der Medizin

Mit Hilfe des Hardy-Weinberg-Gleichgewichts kann man ermitteln, wie viele Personen in einer Bevölkerung an einer bestimmten Erbkrankheit leiden.

Modellvorstellung

Angenommen, eine Erbkrankheit wird rezessiv vererbt. Das heißt, nur die Personen, die das krankmachende Allel doppelt besitzen (eins vom Vater, eins von der Mutter), zeigen Symptome der Krankheit.

Weiter angenommen, bei 0,3% der Menschen treten die Symptome der Krankheit auf. Mit Hilfe der Formel

p2 + 2pq + q2

kann man nun leicht ausrechnen, wie verbreitet das krankmachende Allel in der Bevölkerung ist. Wir nehmen für q2 nun den Wert 0,003 an, das entspricht den 0,3%. Wenn wir aus diesem Wert die Quadratwurzel ziehen, bekommen wir den Wert für q, nämlich 0,055 (gerundet). Wenn wir den Wert von q kennen, wissen wir auch automatisch, welchen Wert p hat, nämlich 0,945. Bekanntlich gilt ja

p + q = 1

In der Bevölkerung tragen also 5,5% der Menschen das krankmachende Allel.

Der Anteil der Träger beträgt 2pq, das wären dann in diesem Beispiel 10,4%*.

*Auf diese wichtige und noch fehlende Ergänzung bin ich von Herrn Prof. Dr. T Gruber aufmerksam gemacht worden. Herzlichen Dank für diesen Hinweis!