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Alkane, Teil 3

Voraussetzungen

Diese Seite ist für Schüler(innen) gedacht, die einen Chemie-GK oder -LK absolviert haben und jetzt nach dem Abitur ein Studium der Chemie, Biochemie, Biologie, Pharmazie, Medizin oder einer verwandten Naturwissenschaft aufnehmen wollen. Die im Unterricht der gymnasialen Oberstufe vermittelten Chemiekenntnisse werden hier vorausgesetzt. Vor allem die folgenden Themen:

  • Isomerie

Die Ausführungen auf dieser und den folgenden Seiten lehnen sich an die Themen an, die in den bekannten Hochschul-Lehrbüchern (siehe Literaturempfehlungen am Ende dieser Seite) behandelt werden. Allerdings kann diese Seite kein Lehrbuch ersetzen, sondern soll vielmehr auf die Benutzung eines solchen vorbereiten.

5. Radikalische Substitution

Schulwissen

Im Chemieunterricht haben Sie wahrscheinlich Brom oder Bromwasser zu Hexan oder Heptan gegeben und beobachtet, dass die Braunfärbung der Lösung verschwindet, wenn man das Reaktionsgefäß stark belichtet. Man stellt beispielsweise einen Erlenmeyerkolben mit dem Stoffgemisch auf einen Tageslichtprojektor. Bestrahlt man das Alkan-Brom-Gemisch mit blauem Licht, läuft die Reaktion deutlich schneller ab als bei Bestrahlung mit gelbem oder rotem Licht.

Schulversuch zur Bromierung von Heptan, Einfluss der Lichtfarbe.
Autor: Ulrich Helmich 2015, Lizenz: siehe Seitenende

Die Chlorierung von Methan läuft nach dem gleichen Reaktionsmechanismus ab, lässt sich aber leichter an der Tafel formulieren, da man nicht ständig sechs oder sieben C-Atome zeichnen muss. Es handelt sich um eine typische Kettenreaktion.

In einer Startreaktion werden die Chlor-Moleküle durch Lichtenergie gespalten, man spricht hier auch von einer Photolyse (Spaltung durch Licht):

$Cl_2 \to 2 \ Cl\bullet$

Es entstehen Chlor-Radikale, die mit dem Alkan reagieren:

$Cl\bullet + \ H-CH_3 \to Cl-H + \bullet CH_3$

Das Chlor-Radikal abstrahiert ein H-Atom aus dem Alkan, es bildet sich das Nebenprodukt Chlorwasserstoff HCl, und übrig bleibt ein Alkyl-Radikal, hier also das Methyl-Radikal.

Das Methyl-Radikal selbst ist ebenfalls sehr reaktiv und reagiert mit einem neuen Chlor-Molekül:

$Cl_2 + \bullet CH_3 \to Cl\bullet + \ Cl-CH_3$

So entsteht ein neues Chlor-Radikal, dass dann wieder mit einem weiteren Alkan-Molekül reagiert und so weiter. Es handelt sich um eine sogenannte Kettenreaktion, und die beiden zuletzt dargestellten Reaktionsschritte werden als 1. Kettenfortpflanzungsschritt und 2. Kettenfortpflanzungsschritt bezeichnet.

Ein einziger Lichtquant, der ein Chlor-Molekül spaltet, kann bis zu 5.000 Zyklen dieser Kettenreaktion auslösen. Da bei der Spaltung eines Chlor-Moleküls zwei Radikale entstehen, hat die sogenannte Quanten-Ausbeute der Chlorierung den Wert 10.000.

Gelegentlich wird eine solche Reaktionskette abgebrochen, nämlich immer dann, wenn zwei Radikale miteinander reagieren. Für diese Kettenabbruchreaktion gibt es bei der Methan-Chlorierung drei Möglichkeiten: Es können zwei Chlor-Radikale zusammenstoßen, zwei Methyl-Radikale oder ein Chlor-Radikal und ein Methyl-Radikal.

Nur wenn man sehr wenig Chlor zu dem Methan gibt, entsteht ausschließlich Chlormethan. Erhöht man die Chlor-Konzentration, erhält man auch mehrfach substituierte Methan-Derivate, nämlich Dichlormethan, Trichlormethan und schließlich Tetrachlormethan.

Die Bromierung von Methan verläuft analog, allerdings ist Brom lange nicht so reaktiv wie Chlor, daher verläuft die Reaktion nicht so explosiv. Auch Ethan, Propan und die anderen Alkane lassen sich chlorieren und bromieren. Beim Propan gibt es allerdings schon zwei verschiedene Monochlor- bzw. Monobrom-Produkte, denn sowohl ein primäres wie auch ein sekundäres H-Atom können substituiert werden.

Vorbereitung auf das Chemie-Studium

1. Selektivität

Bei der Monobromierung von Propan erlebt man eine kleine Überraschung. Es können nämlich zwei verschiedene Reaktionsprodukte gebildet werden: 1-Brompropan und 2-Brompropan. Das ist aber noch nicht die Überraschung, sondern kann sogar erwartet werden. Die Überraschung besteht darin, das fast ausschließlich 2-Brompropan entsteht und nur weniger als 4% des 1-Brompropans. Die Selektivität bei dieser Reaktion ist also sehr hoch.

Von einer Selektivität spricht man allgemein, wenn von mehreren möglichen Reaktionsprodukten eines bevorzugt gebildet wird (wenn also der Anteil am Produktgemisch deutlich größer ist als rein statistisch erwartet).

Die zwei Reaktionsprodukte der Propan-Bromierung
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Aufgabe: Begründen Sie, wieso dieses Ergebnis von den Erwartungen abweicht.

Lösung: Das Propan-Molekül besitzt sechs primäre H-Atome und nur zwei sekundäre. Also sollte man rein statistisch sechs Teile 1-Brompropan und nur zwei Teile 2-Brompropan erwarten bzw. 75% und 25%.

Frage: Welche Schlussfolgerung lässt sich aus diesen experimentellen Befunden ziehen?

Antwort: Offensichtlich kann man sekundäre H-Atome leichter aus dem Propan abstrahieren (herauslösen) als primäre H-Atome.

Aufgabe: Berechnen Sie nun, wie viel mal leichter sich ein sekundäres H-Atom aus dem Propan-Molekül abstrahieren lässt als ein primäres H-Atom.

Lösung: Es entstehen weniger als 4% des primären Produktes; jedes der sechs primären H-Atome hat daran einen Anteil von 4/6 bzw. 0,66%. Vom sekundären Produkt entstehen über 96%. Jedes der beiden sekundären H-Atome trägt also zu über 96/2 bzw. 48% zum Produktgemisch bei.

Dividiert man nun diese 48% der sekundären H-Atome durch die 0,66% der primären, kommt man auf den Faktor 48/0,66 = 72,7. Demnach lassen sich bei der Bromierung sekundäre H-Atome 73 mal leichter abstrahieren als primäre.

Die folgende Tabelle zeigt die in vielen solchen Versuchen ermittelten relativen Reaktivitäten von Fluor-, Chlor- und Brom-Radikalen bei der Radikalischen Substitution an Alkanen:

  primär sekundär tertiär
Fluorierung 1 1,2 1,4
Chlorierung 1 3,7 5,0
Bromierung 1 72 890

"Relativ" heißt hier, dass die Reaktivität des Halogens für die Substitution eines primären H-Atoms auf den willkürlichen Wert 1 gesetzt wurde. Die Zahlen stehen nicht für die Geschwindigkeit der Reaktion, sondern für die prozentualen Anteile der primären, sekundären und tertiären Halogenierungsprodukte.

Aufgabe: Berechnen Sie die Anteile der Reaktionsprodukte bei der Chlorierung bzw. Bromierung folgender Verbindung:

3-Methylhexan
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Lösung: Insgesamt hat das 3-Methylhexan neun primäre H-Atome (an den C-Atomen 1, 6 und 7), sechs sekundäre H-Atome (an den C-Atomen 2, 4 und 5) sowie ein tertiäres H-Atom (am C-Aton 3).
Die Anteile an primären, sekundären und tertiären Bromierungsprodukten erhält man, wenn man diese Zahlen mit den Werten aus der Tabelle oben multipliziert:

Primäre Produkte = 9 * 1 = 9 Anteile
Sekundäre Produkte = 6 * 72 = 432 Anteile
Tertiäres Produkt = 1 * 890 = 890 Anteile

Zusammen sind das dann 1331 Anteile, von denen 0,676% auf die primären Produkte entfallen, 32,45% auf die sekundären und 66,87% auf das tertiäre Produkt.

Es stellt sich nun die Frage:

Wieso lässt sich ein tertiäres H-Atom so viel leichter abstrahieren als ein sekundäres, und dieses wiederum leichter als ein primäres?

Eine erste Antwort finden wir, wenn wir uns die Bindungsdissoziationsenthalpien der verschiedenen C-H-Bindungen anschauen:

Bindungsdissoziationsenthalpien verschiedener C-H-Bindungen
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Zur Spaltung einer tertiären C-H-Bindung werden nur 404 kJ/mol benötigt, für eine sekundäre C-H-Bindung schon 414 kJ/mol und für eine primäre C-H-Bindung sogar 423 kJ/mol.

Angenommen, die Temperatur, unter der die Bromierung durchgeführt wird, ist so niedrig, dass die sich bewegenden Teilchen nur eine Energie von maximal 410 kJ/mol aufbringen können. In diesem Fall können nur die tertiären C-H-Bindungen gebrochen werden. Bei Raumtemperatur bewegen sich alle Teilchen wesentlich schneller, für das Aufbrechen einer tertiären C-H-Bindung reicht diese Energie völlig aus, auch die meisten sekundären Bindungen werden gebrochen, und von den primären C-H-Bindungen werden gelegentlich auch welche aufgebrochen, weil immer Teilchen dabei sind, so schnell sind, dass sie auch die dafür notwendige Energie liefern können.

Temperatur und Geschwindigkeit der Teilchen
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Die beiden Kurven in der Abbildung zeigen die Geschwindigkeitsverteilung von Teilchen in Abhängigkeit von der Temperatur. Die blaue Kurve zeigt die Geschwindigkeitsverteilung bei einer niedrigen Temperatur, die rote Kurve bei einer hohen Temperatur.

Allgemein kann man sehen, dass die Teilchengeschwindigkeit mit der Temperatur zunimmt. Die meisten Teilchen haben eine mittlere Geschwindigkeit (Maxima der Kurven), viele Teilchen eine etwas geringere oder etwas höhere Geschwindigkeit, und wenige Teilchen eine sehr viel geringere oder sehr viel höhere Geschwindigkeit.

Bei einer hohen Temperatur haben ebenfalls die meisten Teilchen eine mittlere Geschwindigkeit, nur ist diese mittlere Geschwindigkeit jetzt natürlich viel höher als bei einer niedrigen Temperatur.

Die senkrechten Linien sollen die Bindungsdissoziationsenthalpien für tertiäre (3º), sekundäre (2º) und primäre (1º) C-H-Bindungen symbolisieren. Achtung: Die Grad-Zeichen stehen hier nicht für eine Temperatur, sondern 3º ,2º bzw 1º sind einfach die Abkürzungen für tertiär, sekundär und primär.

Man sieht gut, dass bei einer niedrigen Temperatur (blaue Kurve) keines der vielen Milliarden Teilchen des Chlor- oder Brom-Gases eine Geschwindigkeit bzw. kinetische Energie erreicht, die für die Abstraktion eines H-Atoms erforderlich ist. Selbst für die leicht zu abstrahierenden tertiären H-Atome reicht die kinetische Energie dieser Teilchen nicht aus.

Bei einer höheren Temperatur dagegen hat eine große Anzahl von Teilchen die Energie, mit der tertiäre H-Atome abgetrennt werden können. Ein kleinerer Anteil der Teilchen ist sogar noch schneller und energiereicher und kann sekundäre H-Atome ablösen. Und ein winziger Anteil der Teilchen (ganz rechts am Ende der Kurve) hat genug Energie, um auch primäre H-Atome zu abstrahieren.

Das hier vorgestellte Modell der Temperaturabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit ist eine gute Erklärung für die Beobachtung, dass tertiäre Chlorierungs- und Bromierungsprodukte weit häufiger entstehen, als rein statistisch zu erwarten wäre. Eine gute Erklärung für die beobachtete Selektivität also.

Schauen wir uns den Einfluss der Temperatur auf die Reaktion noch näher an:

Temperatur in ºC primär sekundär tertiär
100 1 250 6300
150 1 80 1700

Frage: Wie sind diese Zahlen zu interpretieren?

Antwort: Bei 100 ºC lässt sich ein sekundäres H-Atom 250 mal leichter von seinem C-Atom trennen als ein primäres H-Atom. Bei 150 ºC ist der Unterschied schon deutlich kleiner, das sekundäre C-Atom lässt sich nur noch 80 mal leichter abtrennen. Das Gleiche gilt für die tertiären H-Atome.

Diesen Befund kann man folgendermaßen interpretieren: Bei 100 ºC ist es generell schwerer, Reaktionen durchzuführen als bei 150 ºC. Sie kennen sicherlich die RGT-Regel, nach der sich die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen bei einer Temperaturerhöhung von 10 ºC im Schnitt verdoppelt. Bei 150 ºC müsste die Bromierung also 32 mal schneller bzw. leichter ablaufen als bei 100 ºC. Die Teilchen bewegen sich dann so schnell, dass es kaum noch eine Rolle spielt, ob ein primäres, ein sekundäres oder ein tertiäres H-Atom abstrahiert werden muss. Die dafür notwendige Energie wird bei 150 ºC deutlich leichter aufgebracht als bei 100 ºC.

Bei 150 ºC ist die Selektivität der Radikalischen Substitution zwar nicht so stark ausgeprägt wie bei 100 ºC, aber sie ist immer noch sehr groß. Wahrscheinlich muss man die Reaktion bei 300 oder 400 ºC durchführen, damit es keinen Unterschied mehr zwischen dem Ablösen primärer, sekundärer und tertiärer H-Atome gibt.

Kommen wir zur nächsten Frage, die sich unmittelbar anschließt:

Frage: Wieso sind die Bindungsdissoziationsenergien tertiärer C-H-Bindungen niedriger als die sekundärer oder gar primärer C-H-Bindungen?

Dazu müssen wir nun etwas weiter ausholen, und dazu müssen Sie Ihre Kenntnisse zum Orbitalmodell des C-Atoms reaktivieren. In den meisten modernen Chemie-Schulbüchern finden Sie dazu nicht allzu viel.

Das C-Atom im Orbitalmodell

Vielleicht schauen Sie sich doch einfach mal diese Seite auf dieser Homepage an, dort wird Ihnen das Wichtigste erklärt.

2. Alkyl-Radikale

Betrachten wir das Methyl-Radikal einmal näher. Im Schulunterricht haben Sie wahrscheinlich gelernt, dass das Methyl-Radikal eine einfach besetzte Kugelwolke besitzt, die unbedingt ein zweites Elektron haben möchte (Oktettregel) und daher sehr reaktiv ist.
Mit dem Orbitalmodell sieht die Sache etwas anders aus.

Das Methyl-Radikal im Orbitalmodell
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Das C-Atom eines Methyl-Radikals ist nicht mehr sp3-hybridisiert, sondern sp2-hybridisiert. Die drei sp2-Hybridorbitale bilden mit den s-Orbitalen von drei H-Atomen kovalente Bindungen (rot gezeichnet), die in einer Ebene liegen (grau), und das übrig gebliebene, nicht an der Hybridisierung beteiligte pz-Orbital ragt mit seinen beiden Orbitallappen (hellblau) nach oben und unten aus dieser Ebene heraus.

Dieser Zustand mit dem einsamen Elektron in dem pz-Orbital ist energetisch ungünstig. Alle Faktoren, die die Elektronendichte in diesem einfach besetzten Orbital erhöhen, stabilisieren das Radikal und erleichtern seine Bildung. Leider gibt es beim Methyl-Radikal keine solche stabilisierenden Faktoren.

Anders sieht das bei primären, sekundären und tertiären Radikalen aus, bei dem also ein, zwei bzw. drei H-Atome des Methyl-Radikals durch Alkylgruppen ersetzt sind:

Vier Alkyl-Radikale
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Achten Sie auf die kleinen blauen Pfeile in dieser Abbildung. Diese blauen Pfeile sollen das "Schieben" von Elektronendichte symbolisieren. Alkylgruppen haben nämlich einen sogenannten positiven induktiven Effekt, kurz einen +I-Effekt.

Wenn ein Substituent einen +I-Effekt hat, heißt das, dass er einen Teil seiner Elektronendichte an ein anderes Atom oder eine andere Atomgruppe abgibt.

Bei einem primären Radikal (wenn man zum Beispiel ein H-Atom aus einem Ethen-Molekül abstrahiert) wird das einfach besetzte pz-Orbital durch den +I-Effekt einer Alkylgruppe stabilisiert. Die Elektronendichte in dem "unzufriedenen" pz-Orbital wird so etwas erhöht, was das Radikal etwas stabilisiert. Es kann daher etwas leichter gebildet werden als ein Methyl-Radikal, das überhaupt nicht stabilisiert wird.

Bei einem sekundären Radikal wird die Elektronendichte im pz-Orbital bereits durch den +I-Effekt von zwei Alkylgruppen erhöht, daher wird ein sekundäres Radikal leichter gebildet als ein primäres. Und bei einem tertiären Radikal verstärkt sich dieser Effekt durch die dritte Alkylgruppe. Tertiäre Radikale werden also relativ leicht gebildet, und diese Tatsache ist nun für die Selektivität der Bromierung und Chlorierung verantwortlich.

3. Hyperkonjugation

Im Chemie-Studium wird Ihnen noch ein weiterer Fachbegriff begegnen, den wir hier kurz klären müssen. Die Stabilität der sekundären und tertiären Radikale ist auf Hyperkonjugation zurückzuführen.

Hyperkonjugation stabilisiert pz-Orbitale
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Betrachten wir dazu das Bild oben. Links sehen wir ein Ethyl-Radikal. Das pz-Orbital des radikalischen C-Atoms ist blau gekennzeichnet und enthält ein Elektron. Das bindende Orbital zwischen dem anderen C-Atom und einem der drei H-Atome ist rötlich dargestellt. Diese kovalente Bindung enthält zwei Elektronen. Der schwarze Doppelpfeil deutet nun an, dass die Elektronen dieser kovalenten Bindung zum Teil mit dem pz-Orbital des anderen C-Atoms wechselwirken und so die Elektronendichte in diesem pz-Orbital erhöhen.

Rechts im Bild sehen wir das sekundäre Propyl-Radikal. Hier kann das pz-Orbital sogar mit zwei s-sp3-Bindungen (C-H-Bindungen) überlappen, die Elektronendichte in dem pz-Orbital wird also stärker erhöht als in dem primären Ethyl-Radikal.

Stellen wir uns nun ein tertiäres Alkyl-Radikal vor. Hier kann das pz-Orbital sogar mit drei s-sp3-Bindungen überlappen, so dass die Elektronendichte hier noch mehr erhöht wird.

4. Energetische Betrachtungen

Betrachten wir nun ein Energiediagramm der Methanchlorierung, wie man es in jedem Hochschul-Lehrbuch, aber auch schon in guten Schulbüchern findet.

Energiediagramm der Methanchlorierung
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Dargestellt sind nur die beiden Kettenfortpflanzungsschritte, die Startreaktion und die Kettenabbruchreaktionen sind nicht berücksichtigt, weil sie für die Energiebilanz der Reaktion unerheblich sind.

Links sehen wir ein Chlor-Radikal, das auf ein Methan-Molekül stößt. Im Übergangszustand dieses ersten Kettenfortpflanzungsschrittes hat sich das H-Atom bereits vom Methan-Molekül gelöst, zum Teil ist es schon mit dem Chlor-Atom verbunden.

In der Mitte sehen wir das Methyl-Radikal, das hier ein Zwischenprodukt der Reaktion ist. Das Methyl-Radikal ist zweimal eingezeichnet worden, um anzudeuten, dass es einerseits das Endprodukt des ersten Schrittes ist (zusammen mit einem HCl-Molekül), andererseits der Ausgangsstoff des zweiten Schrittes (zusammen mit einem Cl2-Molekül).

Der Übergangszustand des zweiten Kettenfortpflanzungsschrittes ist ebenfalls zu sehen. Das eine Chlor-Atom hat sich schon halb aus dem Chlor-Molekül gelöst, halb ist es schon mit dem C-Atom des Methyl-Radikals verbunden.

Ganz rechts sehen wir die Endprodukte des zweiten Kettenfortpflanzungsschrittes: Ein Chlormethan-Molekül und ein Chlor-Radikal.

Das kleine Bild unten in der Zeichnung zeigt übrigens die tatsächlichen energetischen Verhältnisse, aber so wie in dem großen Bild ist das Energiediagramm in den meisten Büchern dargestellt, siehe zum Beispiel die kleine Abbildung oben rechts aus einem bekannten Hochschullehrbuch.

Nun folgt ein kleines Frage-Antwort-Spiel, mit dem Sie überprüfen können, ob Ihr Schulwissen ausreicht, um das Energiediagramm auch richtig zu interpretieren.

Aufgabe: Beschreiben und interpretieren Sie dieses Energiediagramm!

Lösung: Wenn man das Diagramm betrachtet, kann man auf den ersten Blick sehen, dass die Reaktion in zwei Schritten abläuft. Jeder Reaktionsschritt besitzt einen eigenen Übergangszustand, und beide Schritte sind durch ein oder mehrere Zwischenprodukte miteinander verbunden.

Ebenfalls auf den ersten Blick sieht man, dass die Gesamtreaktion recht exotherm ist, was vor allem an dem zweiten Kettenfortpflanzungsschritt liegt. Der erste Kettenfortpflanzungsschritt ist jedoch endotherm.

Frage: Wieso läuft die Reaktion überhaupt ab, wenn doch der erste Reaktionsschritt endotherm ist?

Antwort: In dem Erlenmeyerkolben, in dem die Reaktion abläuft, finden ja viele Einzelschritte gleichzeitig statt. Und die vielen zweiten Kettenfortpflanzungsschritte, die in dem Kolben ablaufen, liefern genug Energie, um die vielen ersten endothermen Schritte anzutreiben.

Frage: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Übergangszustand und einem Zwischenprodukt?

Antwort: Während die Übergangszustände rein theoretische Konstrukte sind - man stellt sich vor, wie sie aussehen könnten - kann man die Zwischenprodukte einer mehrschrittigen Reaktion manchmal sogar isolieren, allerdings ist das nicht ganz einfach. Die Reaktion muss dann bei sehr niedrigen Temperaturen ablaufen, und das Zwischenprodukt muss auch besonders stabil sein. Einen Übergangszustand dagegen kann man nicht isolieren.

Die Leute unter Ihnen, die im Unterricht besonders gut aufgepasst haben (oder die schon weiterführende Literatur gelesen oder im Internet recherchiert haben), können bestimmt auch die folgende Frage beantworten:

Frage: Welcher der beiden Schritte ist der geschwindigkeitsbestimmende?

Antwort: Der erste Reaktionsschritt hat eine höhere Aktivierungsenergie als der. zweite Schritt und läuft daher langsamer ab. Denn die höhe der Aktivierungsenergie bestimmt ja die Reaktionsgeschwindigkeit. Die Gesamtgeschwindigkeit einer mehrschrittigen Reaktion hängt immer von dem langsamsten Einzelschritt ab. Insofern bestimmt der erste Kettenfortpflanzungsschritt die Geschwindigkeit der Gesamtreaktion. Alle Faktoren, die diesen ersten Schritt beschleunigen, erhöhen auch die Geschwindigkeit der Gesamtreaktion.

Nach diesem kurzen Frage-Antwort-Spiel wollen wir einmal versuchen, ein paar energetische Berechnungen durchzuführen. Und zwar wollen wir die Reaktionsenthalpien der beiden Kettenfortpflanzungsschritte berechnen.

Frage: Welche Informationen benötigen wir, um eine solche Berechnung durchzuführen?

Antwort: Bei einer chemischen Reaktion werden einerseits die Bindungen der Edukte gespalten, andererseits entstehen bei der Bildung der Produkte neue chemische Bindungen. Wir müssen also die Bindungsdissoziationsenergien der beteiligten kovalenten Bindungen kennen.

Das folgende Bild zeigt die Chlorierung von Methan; eingezeichnet sind dabei die Bindungsdissoziationsenthalpien der zu spaltenden Bindungen in den Edukten sowie der neu entstehenden Bindungen in den Produkten:

Energiebetrachtungen zur Chlorierung von Ethan
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende

Insgesamt sind die beiden Kettenfortpflanzungsschritte also exotherm, die Reaktionsenthalpie beträgt ΔH = -115 kJ/mol.

Wenn man ähnliche Rechnungen für die Fluorierung, Chlorierung, Bromierung und Iodierung von Methan durchführt, kommt man zu folgenden Ergebnissen (die Rechnungen werden hier nicht weiter ausgeführt; in der eBook-Version dieser Studienvorbereitung finden Sie jedoch die kompletten Rechnungen erläutert).

  • Methan-Fluorierung: -330 kJ/mol
  • Methan-Chlorierung: -89 kJ/mol
  • Methan-Bromierung: +63 kJ/mol
  • Methan-Iodierung: +83 kJ/mol
5. Halogenierungen im Vergleich - Übergangszustände

Übergangszustände der Alkan-Bromierung und -Fluorierung
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende

Diese Abbildung zeigt den Übergangszustand des ersten Kettenfortpflanzungsschrittes bei der Bromierung (links) bzw. der Fluorierung (rechts) eines Alkans.

Frage: Was fällt bei der ersten Betrachtung dieser Übergangszustände auf?

Antwort: Die Aktivierungsenergie bei der Bromierung ist deutlich höher als die Aktivierungsenergie bei der Fluorierung, der erste Kettenfortpflanzungsschritt der Bromierung verläuft daher wesentlich langsamer als bei der Fluorierung.

Werfen wir nun einen zweiten Blick auf die Abbildung. Der Übergangszustand der Bromierung liegt in der Nähe der Produkte des ersten Kettenfortpflanzungsschrittes. Dagegen liegt der Übergangszustand der Fluorierung eher in der Nähe der Edukte.
Ist diese Feststellung jetzt nur von akademischem Interesse, oder hat dieser Unterschied, die Lage des Übergangszustandes, Auswirkungen auf den Verlauf der Reaktion?

Wir hatten bei unseren vorherigen Betrachtungen gesehen, dass die Bromierung eines Alkans sehr selektiv verläuft. Bromiert man ein Alkan mit primären, sekundären und tertiären H-Atomen, so findet man in dem Produktgemisch fast ausschließlich das tertiäre Monobromierungsprodukt. Wir hatten das darauf zurückgeführt, dass tertiäre Kohlenstoff-Radikale leichter gebildet werden können als sekundäre oder gar primäre. Das wiederum lag an Faktoren wie +I-Effekt und Hyperkonjugation, die ein tertiäres Radikal viel stärker stabilisieren als ein sekundäres oder primäres.

Eine Frage hatten wir allerdings noch nicht geklärt: Wieso ist die Bromierung eines Alkans extrem selektiv, die Chlorierung mäßig selektiv und die Fluorierung so gut wie gar nicht selektiv?

Eine Antwort, die Sie vielleicht schon aus dem Schulunterricht kennen, könnte so lauten: Die Fluorierung verläuft derart exotherm, dass es dem Fluor-Radikal egal ist, ob es ein primäres, sekundäres oder tertiäres H-Atom vor sich hat, die bei der Reaktion freigesetzte Energie reicht auch für die schwerer abzutrennenden primären H-Atome locker aus. Die Bromierung dagegen ist endotherm, hier können nur tertiäre H-Atome in "vernünftiger" Zeit abstrahiert werden.

Die Theorie des Übergangszustandes bietet eine andere und bessere, allerdings auch etwas komplexere Erklärung. Wir hatten es oben bereits angedeutet. Der Übergangszustand des ersten Kettenfortpflanzungsschrittes der Bromierung (geschwindigkeitsbestimmend!) liegt stark in der Nähe des Endprodukts dieses Schrittes. Das Endprodukt des ersten Kettenfortpflanzungsschrittes ist das Alkylradikal (insgesamt betrachtet ist das Alkylradikal das Zwischenprodukt der Reaktion).

Und nun kommt es: Alle Faktoren, die dieses Alkylradikal stabilisieren, stabilisieren auch den Übergangszustand des ersten Kettenfortpflanzungsschrittes.

Das heißt, die Faktoren +I-Effekt und Hyperkonjugation, die ein tertiäres Alkyl-Radikal stabilisieren, erleichtern auch die Bildung des Übergangszustandes des ersten Kettenfortpflanzungsschrittes. Gerade weil dieser Übergangszustand bei der Bromierung eine so hohe Aktivierungsenergie hat, wirkt sich die Stabilität der Radikale so stark auf den Verlauf der Reaktion aus.

Bei der Fluorierung (und auch der Chlorierung) liegt der Übergangszustand des ersten Kettenfortpflanzungsschrittes eher in der Nähe der Ausgangsstoffe. Faktoren, die das Alkyl-Radikal stabilisieren, wirken sich nicht so stark (Chlorierung) oder gar nicht (Fluorierung) auf den Übergangszustand aus. Tertiäre Alkylradikale werden daher genau so schnell oder langsam gebildet wie sekundäre oder primäre.

Diese Erkenntnisse werden übrigens als Hammond-Postulat zusammengefasst.

Hammond-Postulat: Bei endothermen Reaktionen ähnelt der Übergangszustand den Produkten, bei exothermen Reaktionen den Edukten.

Je größer die Reaktivität, desto kleiner die Selektivität
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende

Hier zum Abschluss noch einmal eine anschauliche Darstellung des Zusammenhangs zwischen Selektivität und Reaktivität: Je reaktiver die Halogenierung, desto weniger selektiv ist sie.

6. Thermodynamische und kinetische Kontrolle

Jetzt müssen wir noch zwei Fachbegriffe besprechen, die im Chemie-Studium immer wieder vorkommen. Was versteht man unter thermodynamischer bzw. kinetischer Kontrolle einer Reaktion?

A: Kinetische Kontrolle, B: Thermodynamische Kontrolle
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende

Betrachten wir dazu die beiden Energiediagramme A und B. Bei B ist die Aktivierungsenergie des ersten Schrittes höher als bei A, dafür ist die Reaktionsenthalpie bei B insgesamt negativer als bei A.

Man könnte also A charakterisieren als exotherme Reaktion mit niedriger Aktivierungsenergie, und B als stärker exotherme Reaktion mit hoher Aktivierungsenergie.
Nun nehmen wir einmal an, A und B sind Konkurrenzreaktionen. Die Edukte sind bei A und B also gleich, aber es entstehen unterschiedliche Produkte.

Die Konkurrenzreaktionen bei niedrigen Temperaturen

Bei niedrigen Temperaturen verlaufen beide Reaktionen generell langsamer als bei hohen Temperaturen, das sagt zumindest die RGT-Regel. Allerdings verläuft der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der Reaktion A etwas schneller als der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der Reaktion B. Bei niedrigen Temperaturen wird also Reaktion A insgesamt schneller ablaufen, es entstehen bevorzugt die Reaktionsprodukte von A.

Die Konkurrenzreaktionen bei hohen Temperaturen

Bei hohen Temperaturen, wenn also jede Menge thermischer Energie zur Verfügung steht, spielt die Höhe der Aktivierungsenergie so gut keine Rolle mehr für den Verlauf der Reaktion, es ist genug Energie da, um auch hohe Aktivierungsberge zu überwinden. Jetzt wird die Reaktion bevorzugt, bei der die freigesetzte Reaktionsenthalpie größer ist, in unserem Fall also die Reaktion B.

Thermodynamische und kinetische Kontrolle

Wenn der Verlauf einer Reaktion von der Aktivierungsenergie des geschwindigkeitsbestimmenden Schrittes abhängt, spricht man von kinetischer Kontrolle. Eine kinetische Kontrolle liegt meistens bei niedrigen Temperaturen vor.
Das Gegenteil von kinetischer Kontrolle ist die thermodynamische Kontrolle. Eine thermodynamische Kontrolle liegt vor, wenn der Verlauf der Reaktion von der Reaktionsenthalpie bestimmt wird. Eine thermodynamische Kontrolle liegt meistens bei hohen Temperaturen vor.

Literatur-Empfehlungen für das Studium der Chemie oder verwandter Wissenschaften:

  1. VollhardT, Schore: Organische Chemie. 6. Auflage, Weinheim 2020.
  2. Morrison, Boyd, Bhattacharjee: Organic Chemistry. 7. Auflage, Dorling Kindersley 2011.
  3. J. Clayden, N. Greeves, S. Warren: Organische Chemie. Berlin 2013.
  4. Buddrus, Schmidt, Grundlagen der Organischen Chemie, 5. Auflage, De Gruyter-Verlag 2014.

Natürlich sollten Sie sich nicht alle vier Bücher kaufen, das wäre recht kostenintensiv und Sie hätten auch gar keine Zeit, sich alle vier Lehrwerke genauer anzuschauen. Sehr "leicht" zu lesen sind der Vollhardt-Schore sowie der Buddrus. Der Clayden verfolgt ein sehr modernes Konzept, das manchen Leuten aber zu abstrakt vorkommt, während es andere sehr gut finden, und der Morrison-Boyd ist ein "Klassiker", der nicht tot zu kriegen ist, weil er sich so bewährt hat. Wer der englischen Sprache mächtig ist, kann sich bei Amazon (oder bei anderen Händlern) die indische Auflage dieses Lehrwerkes für wenige Euro kaufen.

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Weiter mit dem ersten Teil der Alkene... (noch in Arbeit)