Helmichs Chemie-Lexikon

Carbonsäuren: Reaktionen als Säure

Die Carboxy-Gruppe ist in der Lage, ein Proton abzugeben. Alle Carbonsäuren sind daher Brönsted-Säuren, und zwar mittelstarke bis schwache. Die pKS-Werte der meisten Carbonsäuren liegen im Bereich zwischen 4 und 5, es gibt natürlich auch stärkere und schwächere Carbonsäuren.

pKS-Werte der Carbonsäuren

Im folgenden Kasten wird exemplarisch der pKS-Wert der Essigsäure berechnet:

Berechnung des pKS-Wertes von Essigsäure

Eine Essigsäure der Konzentration c(HAc) = 0,1 mol/l hat einen pH-Wert von 2,87. Die Konzentration der Oxonium-Ionen in dieser Lösung beträgt also 10-2,87 mol/l.

Die Gleichgewichtskonstante KS von Essigsäure berechnet sich nach dieser Formel:

$K_{s}=\frac{c(H_{3}O^{+})^{2}} {c_{0}(HAc) - c(H_{3}O^{+})}$

Wenn wir nun die Konzentrationen c = 0,1 mol/l und c = 10-2,87 mol/l in diese Formel einsetzen, erhalten wir:

$K_{s} =\frac{(10^{-2,87})^{2}} {0,1 - 10^{-2,87}} = \frac{10^{-5,74}}{0,098} = 10^{-4,73}$

Der negative dekadische Logarithmus des KS-Wertes ist der pKS-Wert, er hat bei Essigsäure also den Wert pKS = 4,73. Damit ist Essigsäure eine mittelstarke Säure.

Der pKS-Wert

Auf diesen Seiten für die Sek. II können Sie noch einmal alles über den pKS-Wert und seine Berechnung nachlesen.

Vergleichen wir nun die pKS-Werte einiger Alkansäuren[3], also von Monocarbonsäuren, die sich von einem Alkan ableiten:

  • Ameisensäure bzw. Methansäure = 3,77
  • Essigsäure bzw. Ethansäure = 4,59
  • Propionsäure bzw. Propansäure = 4,87
  • Buttersäure bzw. Butansäure = 4,82
  • Valeriansäure bzw. Pentansäure = 4,84
  • Capronsäure bzw. Hexansäure = 4,85

Offensichtlich hängt die Säurestärke von der Zahl der C-Atome ab, je weniger C-Atome, desto stärker die Säure. Ameisensäure hat den kleinsten pKS-Wert und somit die größte Säurestärke der sechs aufgelisteten Monocarbonsäuren.

Aber aber der Propionsäure scheint die Zahl der C-Atome keinen Einfluss mehr auf die Säurestärke zu haben. Propionsäure bis Capronsäure (C3 bis C6) haben alle den fast gleichen pKS-Wert und damit die fast gleiche Säurestärke.

Auch die folgenden Glieder der homologen Reihe der Monocarbonsäuren unterscheiden sich nicht mehr wesentlich in ihrer Säurestärke. Außerdem nimmt die Wasserlöslichkeit der Carbonsäuren mit jedem zusätzlichen C-Atom ab, so dass der Säurecharakter dann sowieso keine Rolle mehr spielt.

Gründe für die hohe Säurestärke

Vergleichen wir einmal die Säurestärken von Ethanol und Ethansäure.

  • Ethanol = 16
  • Ethansäure = 4,59

Denken Sie daran, dass der pKS-Wert ein logarithmisches Maß ist. Die Säurestärke von Essigsäure ist also nicht 3,5 mal so groß wie die von Ethanol, sondern 1011,4 mal so groß, also mehr als hundert Milliarden mal so groß.

Das Carboxylat-Ion ist mesomeriestabilisiert

Die Ursache für die relativ hohe Säurestärke der Carbonsäuren liegt in der Struktur des Carboxylat-Ions, das nämlich durch zwei Grenzstrukturen stabilisiert wird:

Das Carboxylat-Ion ist mesomeriestabilisiert
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Beide C-O-Bindungen der COO--Gruppe haben die gleiche Länge von 126 pm, was zeigt, dass beide Bindungen absolut gleichwertig sind. Diese Bindungslänge liegt ziemlich genau zwischen der Länge einer C-O-Einfachbindung (134 pm) und einer C=O-Doppelbindung (120 pm).

Nun gibt es eine gute alte Regel in der organischen Chemie, die man sich gut merken sollte:

Je mehr Grenzstrukturen es von einer Verbindung gibt, desto stabiler ist diese.

Das Carboxylat-Ion kommt in zwei Grenzstrukturen vor, von der Carboxy-Gruppe gibt es aber nur eine mögliche Struktur. Das Carboxylat-Ion ist also demnach stabiler als die Carbonsäure. Diese Art der Stabilisierung eines Ions oder Moleküls bezeichnet man auch als Mesomeriestabilisierung oder +M-Effekt.

Wegen dieser Mesomeriestabilisierung kann das H-Atom der Carboxygruppe leicht abgegeben werden, die Bildung des Carboxylat-Ions ist energetisch sehr günstig[1].

Alkoholate haben nur eine Grenzstruktur

Gibt ein Alkohol ein Proton ab, so entsteht ein Alkoholat-Ion mit einem negativ geladenem O-Atom. Für dieses Alkoholat-Ion gibt es aber nur eine Struktur, keine zwei oder gar drei Grenzstrukturen.

Das Alkoholat-Ion ist also nicht energetisch günstiger als das Alkohol-Molekül. Aus diesem Grund wird ein Alkohol also nur dann ein Proton abgeben, wenn eine wirklich extrem starke Base anwesend ist, während bei Essigsäure und anderen Carbonsäuren bereits die Anwesenheit von Wasser-Molekülen, also relativ schwachen Basen, ausreicht, um Protonen abzugeben.

Das C-Atom der COOH-Gruppe ist sp2-hybridisiert

Eine zweite Ursache für die hohe Stabilität des Carboxylat-Ions ist laut [5] die sp2-Hybridisierung des zentralen C-Atoms:

"Das positiv polarisierte und sp2-hybridisierte Kohlenstoffatom übt einen starken elektronenziehenden induktiven Effekt auf die benachbarten Gruppen aus."

Einfluss von Substituenten auf die Säurestärke

-I-Substituenten

-I-Substituenten am α-C-Atom haben einen großen Einfluss auf die Säurestärke der Monocarbonsäuren [1]:

  • CH3-COOH = 4,76
  • Cl-CH2-COOH = 2,82
  • Cl2-CH-COOH = 1,26
  • Cl3-C-COOH = 0,63
  • F3-C-COOH = 0,23

Elektronenziehende Substituenten wie bei den Chlor- oder Fluoressigsäuren erhöhen durch ihren -I-Effekt die Acidität erheblich. Die negative Ladung der COO--Gruppe wird durch einen -I-Substituenten merklich abgeschwächt, und das COO--Anion wird dadurch stabilisiert.

Einfluss der Entfernung des -I-Substituenten von der COOH-Gruppe

In [2] finden wir eine schöne Darstellung, die uns zeigt, welchen Einfluss die Entfernung des -I-Substituenten von der COOH-Gruppe auf die Säurestärke der Carbonsäure hat:

  • Butansäure = 4,81
  • 4-Chlorbutansäure = 4,55
  • 3-Chlorbutansäure = 4,05
  • 2-Chlorbutansäure = 2,85

Bereits das recht weit entfernte Cl-Atom an Position 4 hat schon einen merkbaren Einfluss auf die Säurestärke, der pKS-Wert steigt von 4,81 auf 4,55. In absoluten Zahlen ausgedrückt steigt die Säurestärke (KS-Wert, Säurekonstante) von 155 * 10-7 auf 282 * 10-7, also fast auf das Doppelte. Wenn das Cl-Atom noch eine Position näher an die COOH-Gruppe rückt, steigt die Säurestärke auf 891 * 10-7, das ist schon 5,7 mal so sauer. Der pKS-Wert der 2-Chlorbutansäure beträgt 2,85 oder 10-2,85, was dem Wert 14.125 * 10-7 entspricht. Damit ist die 2-Chlorbutansäure ca. 91 mal so sauer wie die Butansäure.

Richtig deutlich wird der Einfluss der Entfernung, wenn man nicht die nicht logarithmischen KS-Werte (mit 1000 multipliziert) graphisch darstellt:

Einfluss der Entfernung des -I-Substituenten auf die Säurestärke einer Carbonsäure
Autor: Ulrich Helmich 06/2024, Lizenz: siehe Seitenende

Die KS-Werte von Butansäure, 4-Chlor- und 3-Chlorbutansäure konnten noch ganz vernünftig dargestellt werden, der Wert für die 2-Chlorbutansäure sprengt jedoch den Rahmen, wie man in dem kleinen Bild gut sehen kann.

+I-Substituenten

Logischerweise müssten dann Substituenten mit einem +I-Effekt die Säurestärke vermindern. Das wollen wir einmal anhand der Pentansäuren überprüfen.

pKS-Werte von Valeriansäure und Pivalinsäure
Autor: Ulrich Helmich 05/2024, Lizenz: siehe Seitenende

Die 2,2-Dimethylpropansäure hat tatsächlich eine (etwas) geringere Säurestärke als die isomere n-Pentansäure. Die drei Methylgruppen üben einen +I-Effekt auf das α-C-Atom und damit etwas schwächer auch auf die COOH-Gruppe aus. Dieser +I-Effekt scheint etwas größer zu sein als der ebenfalls vorhandene +I-Effekt der Propyl-Gruppe bei der n-Pentansäure.

Zum Thema "Einfluss von +I-Substituenten auf die Säurestärke von Carbonsäuren" schauen wir uns noch einmal die pKS-Werte der ersten drei Alkansäuren an:

  • Ameisensäure bzw. Methansäure = 3,77
  • Essigsäure bzw. Ethansäure = 4,59
  • Propionsäure bzw. Propansäure = 4,87

Bei der Ameisensäure liegt die COOH-Gruppe quasi "nackt" vor, kein Substituent beeinflusst die Säurestärke. Bei der Essigsäure ist die COOH-Gruppe mit einem CH3-Substituenten verbunden. Der +I-Effekt dieses recht kleinen Substituenten beeinflusst die Säurestärke schon deutlich. Bei der Propionsäure schließlich ist die COOH-Gruppe mit einem C2H5-Substituenten verknüpft, der die Säurestärke noch deutlicher vermindert.

Dicarbonsäuren:
Der -I-Effekt einer zweiten COOH-Gruppe

Dicarbonsäuren besitzen zwei COOH-Gruppen. Carboxy-Gruppen üben bekanntlich einen -I-Effekt auf benachbarte Atome oder Atomgruppen aus, ähnlich wie Chlor- oder Fluor-Atome. Daher sollte Oxalsäure (HOOC-COOH) einen deutlich niedrigeren pKS-Wert haben als Essigsäure. Vergleichen wir einmal:

  • Essigsäure = 4,76
  • Oxalsäure = 1,27 / 4,19

Selbst der zweite pKS-Wert der Oxalsäure ist noch niedriger als der pKS-Wert der Essigsäure. Auch die folgenden Dicarbonsäuren haben einen niedrigeren ersten pKS-Wert als die entsprechenden Monocarbonsäuren:

  • Oxalsäure HOOC-COOH = 1,27
  • Malonsäure HOOC-CH2-COOH = 2,83
  • Bernsteinsäure HOOC-(CH2)2-COOH = 4,20

Man sieht hier regelrecht, wie der -I-Effekt durch die dazwischen liegenden CH2-Gruppen vermindert wird. Je weiter die zweite COOH-Gruppe von der ersten entfernt, desto geringer ist ihr Einfluss auf den pKS-Wert. Dennoch wirkt sich selbst bei vier dazwischen liegenden CH2-Gruppen der -I-Effekt noch aus:

  • Adipinsäure HOOC-(CH2)4-COOH = 4,35
  • Capronsäure H3C-(CH2)4-COOH = 4,85

Quellen:

  1. K. P. C. VollhardT, N.E. Schore: Organische Chemie. 6. Auflage, Weinheim 2020.Römpp Chemie-Lexikon, 9. Auflage 1992
  2. Buddrus, Schmidt, Grundlagen der Organischen Chemie, 5. Auflage, De Gruyter-Verlag 2014.