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Gleichgewichtssinn

Allgemeines

Ein gesunder Mensch merkt gar nicht, dass er einen Gleichgewichtssinn hat. Erst wenn dieser ausfällt oder beeinträchtigt ist, fällt einem die Existenz dieses Sinnesorgans auf. Man leidet plötzlich unter Schwindel, kann nicht richtig gehen, das Gleichgewicht nicht halten und so weiter. In der Evolution hat uns der Gleichgewichtssinn geholfen, den aufrechten Gang zu entwickeln und zu perfektionieren.

Gleichgewichtssinn bei wirbellosen Tieren

Statocysten sind mechanische Sinnesorgane von einfachen wirbellosen Tieren (zum Beispiel Quallen), die zur Wahrnehmung der Schwerkraft dienen. Dies ermöglicht den Tieren, das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten und so ihre Normallage einzuhalten. Dies ist vor allem bei schwimmenden oder fliegenden Wirbellosen wichtig. Ein einfacher Statocysten-Typ besteht aus einer Reihe kugelförmig angeordneter Mechanorezeptoren, die in ihrer Mitte einen mit Sinneshaaren ausgestatteten Hohlraum bilden:

Bau einer einfachen Statocyste
Autor: Ulrich Helmich 2021, Lizenz: siehe Seitenende

In diesem Hohlraum befindet sich eine Flüssigkeit mit ein paar kleinen Statolithen. Diese Statolithen sind meistens Sandkörner oder Kalkpartikel. Wegen der Schwerkraft liegen die Statolithen stets auf den Sinneszellen, die sich gerade "unten" befinden. Die Sinneshaare dieser Mechanorezeptoren werden dadurch ausgelenkt und senden Aktionspotenziale zum ZNS. Die anderen Mechanorezeptoren, die keinen Druck durch die Statolithen verspüren, senden keine Informationen zum ZNS. Auf diese Weise kann das Tier feststellen, wo oben und unten ist und sich entsprechend orientiern. Ersetzt man die Statolithen durch Eisenspäne, dann kann man man mit Hilfe eines Magneten Verwirrung bei den Tieren stiften. Die Eisenspäne werden nämlich durch den Magneten nach oben gezogen und reizen dann die Mechanorezeptoren im oberen Bereich des Statocysten. Die Tiere legen sich dann auf den Rücken oder schwimmen sogar in Rückenlage [1].

Gleichgewichtssinn bei Säugetieren

Der Gleichgewichtssinn des Menschen (und anderer Säugetiere) sitzt im Innenohr, er ist einer der beiden Sinne des so genannten vestibulären Labyrinths.

Das vestibuläre Labyrinth mit Utriculus und Sacculus
Autor: Henry Vandyke Carter (1831–1897) , Beschriftung geändert und eingefärbt von U. Helmich 2022, Lizenz: Public Domain

Der Gleichgewichtssinn besteht aus zwei Komponenten, die man Utriculus und Sacculus nennt. Beide Komponenten zusammen werden als Maculaorgane bezeichnet.

Die Maculaorgane registrieren Veränderungen des Neigungswinkel des Kopfes sowie Translations-Beschleunigungen. Wenn man also in einem Fahrstuhl einsteigt und der plötzlich nach oben losfährt oder am Ziel angekommen abbremst (vertikale positive bzw. negative Translations-Beschleunigung), merkt man das mit Hilfe dieser Organe. Oder wenn man im Auto als Beifahrer sitzt und der Fahrer plötzlich Gas gibt oder abbremst (horizontale positive bzw. negative Translations-Beschleunigung).

Aber nicht nur unerwartete Beschleunigungen in vertikaler (Fahrstuhl) oder horizontaler (Auto) Richtung werden von den beiden Maculaorganen wahrgenommen, sondern auch die ständig einwirkende Schwerkraft der Erde, die ja nichts anderes ist als eine permante vertikale Beschleunigung hin zum Erdmittelpunkt. "Wahrgenommen" ist hier sicherlich das falsche Wort, denn normalerweise nimmt man die Schwerkraft nicht wahr. Erst dann, wenn die Schwerkraft plötzlich wegfällt, zum Beispiel beim freien Fall, merkt man, dass sie vorher da war.

Der Drehsinn ist etwas anderes, er wird über die drei Bogengänge vermittelt, darauf wird aber auf einer eigenen Seite eingegangen (die aber erst noch geschrieben werden muss).

Wie funktioniert nun die Wahrnehmung von Beschleunigungen? Schauen wir uns dazu das nächste Bild an:

Bildung eines Rezeptorpotenzials über einen mechanisch gesteuerten Natriumkanal

Das Sinnesepithel der Maculaorgane ist ähnlich aufgebaut wie das Sinnesepithel des Gehörsinns.

Gehörsinn

Wenn Sie Näheres über die Funktionsweise der Haarsinneszellen lesen möchten, gehen Sie bitte auf diese Seite. Hier wird ausführlich erklärt, wie die Depolarisierung und Hyperpolarisierung dieser Sinneszellen funktioniert und wie diese Informationen an das Gehirn weitergeleitet werden.

Die eigentlichen Sinneszellen es Epithels sind Haarsinneszellen (hellgrau gezeichnet), bestehen also aus einem großen bauchförmigen Soma und einigen Stereocilien zunehmender Länge. Flankiert sind diese Sinneszellen von Stützzellen (dunkelgrau). Die Sinneszellen und Stützzellen sind von einem "Kissen" aus einer gallertigen Masse überdeckt, auf der sich kleine Steinchen befinden, die Statolithen(oft auch als Otolithen bezeichnet). Die Statolithen bestehen aus Calciumcarbonat (im Grunde das Gleiche wie Marmor) und haben einen Durchmesser von ca. 1 bis 5 µm [2]. Der Utriculus enthält ca. 30.000 dieser Haarzellen, der Sacculus ca. 16.000 [4].

Wird nun der Kopf geneigt, rutschen diese Statolithen etwas in die eine oder in die andere Richtung, je nachdem, ob man den Kopf senkt oder anhebt. Dadurch bewegt sich die Gallerte etwas, und diese Bewegung wiederum verbiegt die Cilien der Haarsinneszellen in die eine oder in die andere Richtung.

Die Cilien sind mit mechanisch gesteuerten K+-Kanälen am oberen Ende der Sinneszellen verbunden, die je nach Richtung der Cilienbiegung weiter geöffnet oder weiter geschlossen werden. Im Grundzustand (also ohne Ablenkung der Cilien) ist ein gewisser Anteil dieser Kanäle geöffnet, und es strömen Kalium-Ionen aus der sehr kaliumhaltigen Endolymphe in die Zellen. Gleichzeitig werden durch andere Kaliumkanäle, die sich an den Seiten der Zellen befinden, Kalium-Ionen in das Außenmedium wieder abgegeben. Es stellt sich also ein Gleichgewicht zwischen K+-Einstrom und K+-Ausstrom ein [3].

Eine der Stereocilien ist besonders lang und auch etwas dicker und anders aufgebaut als die anderen Stereocilien. Diese Cilie wird als Kinocilie bezeichnet. Eine sensorische Funktion hat die Kinocilie nicht [3]. Werden die Stereocilien in Richtung dieser Kinocilie verbogen, werden die oberen K+-Kanäle noch weiter geöffnet, als sie im Normalzustand sind. Es fließen Kationen in die Zelle, und die Membran wird depolarisiert. Werden die Stereocilien dagegen in die andere Richtung gebogen, werden diese K+-Kanäle geschlossen. Durch den ständigen K+-Ausstrom durch die seitlichen K+-Kanäle kommt es dann zu einer Hyperpolarisierung der Membran.

Eine besonders starke Biegung der Stereocilien ist nicht notwendig, bereits bei einer Auslenkung von nur 0,5 µm wird schon das maximale Rezeptorpotenzial erreicht.

Aktionspotenziale können die Haarzellen selbst nicht bilden, sie schütten Neurotransmitter aus, die von den Dendriten der Zellen des Nervus vestibularis aufgenommen werden. Somit gehören die Haarzellen zu den sekundären Sinneszellen. Die Folgezellen bilden dann Aktionspotenziale, welche die Richtung und Intensität der Auslenkung der Stereocilien codieren. Im Ruhezustand wird eine konstante Anzahl von Aktionspotenzialen zum Hörzentrum des Gehirns "geschickt", bei einer Depolarisierung der Haarzellen erhöht sich die AP-Frequenz, bei einer Hyperpolarisierung verringert sie sich - alles genau so wie beim Hörsinn!

Quellen:

  1. Urry, Cain, Wassermann, Minorsky, Reece, Campbell Biologie, Hallbergmoos 2019, 11.Auflage
  2. Bear, Connors, Paradiso: Neurowissenschaften, Springer-Verlag 2018
  3. Schmidt, Schaible, Neuro- und Sinnesphysiologie, Heidelberg 2006
  4. Kandel, Schwartz, Jessel, Siegelbaum, Hudspeth, Principles of Neural Science, Fifth Edition. McGraw-Hill Education 2013.