Helmichs Biologie-Lexikon

Phänotypische Plastizität

Unter dem Phänotyp versteht man nicht nur das äußere Erscheinungsbild eines Individuums (Kopfform, Augenfarbe, Fingerabdruck), sondern auch sein Verhalten (jähzornig, ruhig, ängstlich, mutig), seine Physiologie (hoher Blutdruck, Vorhandensein einer Stoffwechselerkrankung, Fehlfunktion eines bestimmten Enzyms, Kurzsichtigkeit, Gehörschwäche etc.) und weitere Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen, Intelligenz, körperliche Fitness etc.

Phänotyp

Auf der Lexikon-Seite finden sich noch weitere interessante Einzelheiten über den Phänotyp.

Der Phänotyp eines Lebewesens hängt von zwei Faktoren ab, der genetischen Ausstattung des Individuums (Genotyp), und der jeweiligen Umwelt.

Manche phänotypischen Eigenschaften können durch Umwelteinflüsse stark verändert werden, andere gar nicht. Beispiele sind die Hautfarbe des Menschen, die bei hellhäutigen Menschen unter Sonneneinfluss dunkler wird, und die Augenfarbe, die sich nicht ändern kann. Während das Körpergewicht durch gute Nahrungszufuhr und Bewegungsmangel stark ansteigen kann, bleibt die Körpergröße eines erwachsenen Menschen weitgehend konstant.

Für dieses Phänomen - wie weit kann ein genetisch festgelegtes Merkmal durch Umwelteinflüsse modifiziert werden - hat sich der Begriff der Reaktionsnorm eingebürgert.

Reaktionsnorm

Auf der Lexikon-Seite finden Sie weitere Einzelheiten über die Reaktionsnorm und Beispiele dafür.

Der Begriff der phänotypischen Plastizität ist eng verwandt mit dem Begriff der Reaktionsnorm. Auch dieser Begriff beschreibt, wie stark Umwelteinflüsse zu phänotypischen Unterschieden innerhalb einer Population führen können.

"Phänotypische Plastizität liegt vor, wenn Umwelteinflüsse zu deutlichen Unterschieden im Erscheinungsbild eines Individuums führen. Sie ist allgegenwärtig." [1].

In dem Spektrum-Artikel [1], auf den sich diese Seite zunächst bezieht, werden mehrere interessante Beispiele für die phänotypische Plastizität aufgeführt. Am eindrucksvollsten sind die Kaulquappen der Schaufelfußkröten. Leben diese Tiere in einem Tümpel, in dem nur pflanzliche Nahrung vorkommt, bleiben sie kleine unscheinbare Pflanzenfresser. Haben die Kaulquappen jedoch tierische Nahrung zur Verfügung, so werden sie sehr groß und breit und sehen ein bisschen wie Raubtiere aus; ihre Augen sind größer und ihr Mund breiter.

Es werden weitere interessante Beispiele erwähnt:

Bei Spitzmäusen schrumpft das Gehirn im Winter, weil es dann weniger Energie benötigt, bei männlichen Mistkäfern bestimmt die Nahrung, ob die Männchen Hörner bekommen oder nicht, und bei Wasserflöhen bestimmt die Anwesenheit von Fressfeinden, ob sie Helme bzw. Stacheln zur Abwehr ausbilden - übrigens ein bekanntes Schulbuch-Beispiel.

Welche Vorteile bietet nun eine solche phänotypische Plastizität?

Eigentlich zeigen bereits die oben aufgeführten Beispiele, dass die Fähigkeit, seinen Phänotyp in Abhängigkeit von Umwelteinflüssen zu verändern, die Fitness (also den Fortpflanzungserfolg) eines Individuums erhöht. Ein Wasserfloh, der in Anwesenheit von Fressfeinden Stacheln ausbildet, lebt länger als Artgenossen, denen diese Fähigkeit fehlt, und kann folglich mehr Nachkommen produzieren, die die Fähigkeit zur phänotypischen Plastizität erben.

Durch die phänotypische Plastizität passen sich Individuen an veränderte Umweltbedingungen an, und zwar "in Echtzeit", wie man heute sagen würde. Auch durch natürliche Auslese, wie sie schon Darwin erkannt hatte, entstehen solche Angepasstheiten, aber es dauert immer mindestens eine Generation, bis die Nachkommen von diesen Angepasstheiten profitieren können. Durch die phänotypische Plastizität können solche Anpassungen wesentlich schneller - innerhalb einer Generation - erfolgen, nämlich dann, wenn sie tatsächlich gebraucht werden.

Eine hohe phänotypische Plastizität bietet also vor allem in Umwelten, die sich schnell ändern, einen enormen Überlebens- und Fitnessvorteil. In Umwelten, die über lange Zeiträume weitgehend konstant sind, wäre die Fähigkeit zur phänotypische Plastizität dagegen eher eine Verschwendung von Ressourcen.

Fünf Bedingungen müssen erfüllt sein

Der Evolutionstheoretiker Samuel Scheiner und andere Forscher haben fünf Bedingungen aufgestellt, wann eine hohe phänotypische Plastizität sinnvoll und erfolgreich ist:

  1. Die Vorteile der phänotypische Plastizität müssen größer sein als ihre Nachteile (zum Beispiel Verbrauch an Ressourcen).
  2. Die Individuen müssen eine genetische Ausstattung haben, die ihnen eine Veränderung des Phänotyps überhaupt ermöglicht (Reaktionsnorm!)
  3. Die Umweltbedingungen müssen sich häufig ändern.
  4. Keine der möglichen Variationen des Phänotyps darf bei allen Umweltbedingungen den anderen Variationen überlegen sein (dann würde sich nämlich diese Variation langfristig durchsetzen).
  5. Die Individuen müssen in der Lage sein, die Veränderungen der Umwelt überhaupt zu registrieren.
Kontinuierliche und diskontinuierliche phänotypische Plastizität

Manche Merkmale lassen sich kontinuierlich verändern, beispielsweise Körpergewicht, Haut- oder Fellfarbe, Länge von Stacheln oder Dornen und so weiter.

Andere Merkmale lassen sich dagegen nur diskontinuierlich verändern, das Musterbeispiel hierfür ist das Geschlecht. Bei vielen Tieren hängt das Geschlecht der Nachkommen nämlich nicht in erster Linie von der genetischen Ausstattung ab (X- und Y-Chromosomen), sondern von Umwelteinflüssen. Bei sozialen Insekten (Bienen, Ameisen, Termiten) kann die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste durch Umwelteinflüsse (Nahrung, Hormone, Pheromone) gesteuert werden. Da es nur eine begrenzte Zahl solcher Kasten gibt, haben wir es hier mit einer diskontinuierlichen phänotypischen Plastizität zu tun.

Genetische Assimilation

Im Laufe der evolutionären Entwicklung einer Art kann sich die phänotypische Plastizität verringern. Meistens ist das der Fall, wenn eine oder mehrere der oben genannten fünf Bedingungen nicht mehr gegeben sind. Eine der vielen (kontinuierlichen oder diskontinuierlichen) Variationen wird dann sozusagen genetisch fixiert. Um wieder auf das berühmte Beispiel mit den Wasserflöhen zurück zu kommen: Wenn in der Umwelt dieser Tiere ständig Fressfeinde vorhanden sind, und das über viele Generationen, dann werden sich die Phänotypen durchsetzen, die ständig Stacheln und Helme bilden. Diese Individuen können dann die Stacheln und Helme auch nicht mehr zurück bilden. Eine solche Zurückbildung erfordert ja Ressourcen, und wenn ständig Feinde anwesend sind, wäre eine solche Fähigkeit zur Zurückbildung Ressourcen-Verschwendung und somit nachteilig für die Fitness. Der Fachbegriff für das Durchsetzen eines Phänotyps und dessen genetische Fixierung heißt genetische Assimilation.

Quellen:

  1. David Pfennig: "Evolution jenseits der Gene". Spektrum der Wissenschaft 10/22, S. 35ff