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Druckwellen statt Ionenströme?

Allgemeines - marklose Axone - markhaltige Axone - Druckwellen-Theorie

Eine alte Theorie

Bereits seit 170 Jahren werden von den Ärzten Betäubungsmittel eingesetzt, wenn sie einen Patienten operieren. Wir wirken solche Narkosemittel? Bisher war man der Meinung, dass Betäubungsmittel bestimmte Ionenkanäle im Schmerz leitenden Axon oder in den Schmerz empfangenden postsynaptischen Membranen blockieren oder auf andere Weise Einfluss auf die elektrische Übertragung des Schmerzimpulses nehmen, zum Beispiel die Ausschüttung von Neurotransmittern blockieren, den Abbau von Neurotransmittern im synaptischen Spalt beschleunigen etc.

Ein kleines Problem

Dabei stellt sich aber folgendes Problem: Die vielen verschiedenen Betäubungsmittel unterscheiden sich teils erheblich in ihrer Struktur, die Wirkung ist aber fast immer die gleiche. Proteine wie Ionenkanäle, Membranrezeptoren etc. arbeiten aber immer nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip, sollten also nur auf ganz wenige Substrate reagieren, die wie ein Schlüssel genau in das Schloss passen.

Der Versuch von Overton 1901

Im Jahre 1901 hat der englische Biologe Ernest Overton ein entscheidendes Experiment gemacht, das ein wenig an den Öltropfenversuch erinnert, der auch heute noch im Chemie-Unterricht durchgeführt wird.

Öltropfenversuch

Durchführung:

Bei diesem Öltropfenversuch nimmt man eine große Glasschüssel, füllt sie mit Wasser und streut dann eine dünne Schicht Staub oder Bärlappsporen auf die Wasseroberfläche. Dann gibt man aus einer Pipette einen winzigen Tropfen Öl auf die Wasseroberfläche. Das Öl breitet sich auf der Wasseroberfläche aus und verdrängt den Staub, es entsteht ein klarer, im Idealfall runder Ölfleck.

Bedeutung:

Mit diesem Experiment demonstriert man im Chemieunterricht den Schülerinnen und Schülern, wie man die Länge eines Öl-Moleküls bestimmen kann. Den der Ölfleck ist monomolekular, besteht also aus nur einer einzigen Schicht von Öl-Molekülen. Aus dem Volumen des Tropfens und dem Flächeninhalt des Ölflecks kann man dann leicht die Dicke der Ölschicht und damit die Länge eines Öl-Moleküls berechnen.

Overton hat nun ebenfalls einen Versuch mit Wasser und einer darauf schwimmenden Ölschicht gemacht. Allerdings wollte er nicht die Dicke der Ölschicht messen, sondern wie gut sich verschiedene Betäubungsmittel in dem Öl lösen. Das Ergebnis dieses Versuchs: Je besser ein Betäubungsmittel wirkte, desto mehr löst sich davon in der Ölschicht.

Fazit dieses Versuchs: Betäubungsmittel sind gut löslich in Lipiden; je stärker das Betäubungsmittel, desto besser die Lipidlöslichkeit. Oder umgekehrt: Je besser sich ein Betäubungsmittel in einer Lipidschicht löst, desto stärker seine Wirkung!

Der Versuch von Tasaki 1979

1979 hatte der japanisch-amerikanische Biophysiker Ichiji Tasaki ein interessantes Experiment mit Nervenzellen durchgeführt, welches die bisherigen Theorien der Erregungsentstehung und Erregungsweiterleitung in Frage stellt.

Tasakis Versuch

Durchführung:

Tasaki platzierte ganz vorsichtig ein winziges Plättchen aus Platin auf einer Nervenfaser. Dieses Plättchen bestrahlte er dann mit Laserlicht. Das Plättchen reflektierte das Licht in einem bestimmten Winkel. Jede geringe Veränderung in der Lage des Plättchens führte bei dieser Versuchsanordnung dazu, dass sich der Winkel des reflektierten Lichtes stark änderte. Das ist so ähnlich, wie wenn man Nachts eine starke Taschenlampe auf ein entferntes Haus richtet. Auch wenn die Lampe nur um ein paar Millimeter bewegt wird, wandert der Lichtkegel auf dem entfernten Haus um ein paar Meter.

Erwartungen:

Nach der gängigen Theorie sollte sich das Plättchen nicht bewegen, wenn ein Aktionspotenzial über die Nervenfaser entlang wandert. Der Ausfallwinkel des Laserstrahls sollte sich also nicht oder nur minimal verändern.

Ergebnisse:

Das Gegenteil war aber der Fall. Immer dann, wenn ein Aktionspotenzial an dem Plättchen vorbeikam, änderte sich der Ausfallwinkel drastisch. Das Plättchen bewegte sich also mehr oder weniger stark! 

Die Versuchsergebnisse waren sehr ungewöhnlich; sie entsprachen überhaupt nicht den Erwartungen. Wie konnte das sein? Tasaki und seine Kollegen stellten dann folgende Vermutung auf:

Wenn ein Aktionspotenzial ein Axon entlang wandert, wird es von einer mechanischen Druckwelle begleitet.

Die Dicke der Lipid-Doppelschicht erhöht sich dabei von ca. 4-5 nm (1 nm = 1 millionstel Millimeter) auf ca. 7 nm.

siehe Text

Eine Druckwelle wandert entlang einer Biomembran

Wie man auf der Abbildung auch gut sehen kann, ändert sich dabei die innere Struktur der Lipid-Doppelschicht. Normalerweise ist die Doppelschicht eine zweidimensionale Flüssigkeit, verantwortlich für den flüssigen Zustand sind die vielen ungesättigten Fettsäuren in der Membran. Ungesättigte Fettsäuren enthalten C=C-Doppelbindungen in der cis-Konfiguration, und diese Doppelbindungen sorgen für einen oder mehrere "Knicke" im Fettsäure-Molekül. Der Zusammenhalt zwischen den einzelnen Lipid-Molekülen wird durch diese "Knicke" vermindert, und das erhöht den Flüssigkeitsgrad der Membran.

Im Innern des Wellenbergs der Druckwelle haben die Fettsäuren eine geradlinigere Struktur. Dadurch werden die Moleküle etwas länger, und der Kontakt zwischen den langkettigen Fettsäure wird intensiver. Die Lipid-Doppelschicht hat hier eher einen kristallinen Zustand. Ist der Wellenberg vorbeigezogen, nehmen die Lipide wieder ihre ursprüngliche flüssige Konfiguration ein.

Die Hypothese von Heimburg 2005ff

Der dänische Physiker Thomas Heimburg griff die Versuche von Overton und Tasaki wieder auf und stellte dann eine wirklich revolutionäre Hypothese auf.

Verantwortlich für die Entstehung und Weiterleitung von Aktionspotenzialen sind nicht die verschiedenen Natrium- und Kaliumkanäle der Axonmembran, sondern Druckwellen, die am Axon entlang wandern.

Im Jahre 2009 gelang es dann einem Studenten Heimburgs mit Hilfe elektrischer Impulse eine solche Druckwelle an einer künstlichen Membran auszulösen. Diese Druckwelle breitete sich mit der gleichen Geschwindigkeit von 50 m/s aus wie normalerweise ein Schmerzsignal an einem Axon.

Heimburg nimmt an, dass Betäubungsmittel nicht an Ionenkanäle des Axons oder der postsynaptischen Membran binden, sondern die Struktur der Lipid-Doppelschicht verändern und dadurch die Druckwellen behindern, die seiner Meinung nach für die Erregungsweiterleitung verantwortlich ist.

Durch Versuche konnte Heimburg seine Theorie bestätigen: Als er eine künstliche Membran mit einem Betäubungsmittel behandelte, konnte diese nicht mehr in die kristalline Phase übergehen.

Von den meisten Biologen wird Heimburgs Theorie allerdings abgelehnt, zu viele Beweise gibt es für die klassische Theorie der Erregungsentstehung und -weiterleitung, und viele Experimente bestätigen die Rolle der verschiedenen Ionenkanäle.

Einige Wissenschaftler meinen, die beobachtete Druckwelle sei eine Begleiterscheinung der Aktionspotenziale, die auf dem Axon weitergeleitet werden. Für die Erregungsweiterleitung seien aber weiterhin die Aktionspotenziale verantwortlich. Heimburg lehnt einen solchen Kompromiss jedoch ab und besteht darauf, dass die Druckwelle für die Informationsübertragung verantwortlich ist, und nur die Druckwelle.

Quelle: "Das mechanische Gehirn" von Douglas Fox in Spektrum der Wissenschaft 9/18.