Helmichs Biologie-Lexikon

Gründereffekt

Der Gründereffekt ist eine Form der Gendrift [1], also der zufallsbedingten Veränderung von Allelfrequenzen innerhalb einer Population, ohne dass eine Selektion wirksam ist:

"Der genetische Unterschied entsteht aufgrund der geringen Anzahl an vorhandenen Allelen der an ihrer Gründung beteiligten Individuen und nicht infolge unterschiedlicher Selektionsbedingungen." [4]

Nicht nur Naturkatastrophen wie plötzliche Trockenheit, Wassereinbrüche, Vulkanausbrüche, Orkane etc. verursachen eine Gendrift, sondern auch harmlosere natürliche Vorgänge.

Angenommen, die intraspezifische Konkurrenz in einer Population ist so groß geworden, dass nicht mehr alle Individuen vernünftig leben können. Dann wandert oft ein kleiner Teil der Population in einen neuen Lebensraum aus und versucht dort sein Glück. Auch hier ist es meistens dem Zufall überlassen, welche Genotypen auswandern und eine neue Population gründen. Die Allelfrequenzen dieser Gründer können sich daher stark von den Allelfrequenzen der Ausgangspopulation unterscheiden. In diesem Zusammenhang - Auswandern und Gründen einer neuen Population, spricht man auch vom Gründereffekt.

Neben diesen "freiwilligen" Gründungen neuer Populationen gibt es auch unfreiwillige. Wenn zum Beispiel ein paar Fischeier an dem Fuß eines größeren Vogels hängenbleiben und der dann zu einem anderen See fliegt, wo diese Fischart noch nicht heimisch war, hat der Vogel ohne es zu wissen vielleicht eine neue Fischpopulation gegründet.

siehe folgenden Text

Beispiel für den Gründereffekt
Autor: Ulrich Helmich, nach einer Abbildung aus [4]

Wie man auf diesem Bild gut sehen kann, ist die genetische Variabilität der neuen Fischpopulation gegenüber der Ursprungspopulation stark reduziert: In dem neuen See kommen nur noch die grünen Fische vor, weil an dem Fuß des Vogels nur Eier von grünen Fischen hängen geblieben sind.

Ein anderes Beispiel sind eingewanderte Tierarten wie zum Beispiel der Waschbär, der aus Amerika kommt und in Deutschland ursprünglich gar nicht heimisch war. Durch irgendwelche Transporte ist die Art aber nach Europa gekommen und breitet sich mangels Konkurrenten hier munter aus.

Ein viel zitiertes Beispiel ist der Vogelschwarm, der über die stürmische See fliegt. Durch einen kräftigen Wind wird ein kleiner Teil der Vögel vom Schwarm abgetrennt und landet dann auf einer einsamen Insel, auf der es bisher noch keine Vertreter dieser Vogelart gab. Wenn diese Insel dann gute Lebensbedingungen für die Vögel liefert, lassen sie sich hier nieder und gründen eine neue Population. Die Darwin-Finken sind auf diese Weise entstanden, nimmt man an.

Experimentelle Belege für den Gründereffekt

Echsen auf den Bahamas [2]

An sich kann man in der Evolutionsbiologie ja so gut wie keine Experimente durchführen. Daher wird den Evolutionsbiologen ja oft vorgeworfen, die Evolution sei ja "nur eine Theorie", die man nicht beweisen könne.

Ende 2004 wurde die Inselgruppe der Bahamas von einem starken Hurrikan getroffen. Einige Inseln wurden so stark überflutet, dass alle Tiere starben, die auf den Inseln lebten. Für ein amerikanisches Biologenteam jedoch bot sich hier die einzigartige Gelegenheit, ein evolutionsbiologisches Experiment mit der Echsenart Anolis sagrei durchzuführen.

Anolis sagrei ist ein schönes Beispiel für divergierende Selektion. Auf Inseln mit großen Bäumen gibt es Phänotypen, die längere Beine haben. Mit diesen längeren Beinen können sie sich gut auf den breiten Ästen dieser Bäume fortbewegen. Auf anderen Inseln gibt es nur Gebüsch, keine Bäume. Auf diesen Inseln haben die Vertreter von Anolis sagrei kurze Beine. Damit können sich sich besser durch das dichte Gebüsch bewegen.

Auf sieben dieser überfluteten Inseln setzten die Biologen jeweils ein Pärchen der Echsenart Anolis sagrei aus, die sie von der größeren Insel Iron Cay "entführt" hatten, wo große Bäume wuchsen. Die Individuen hatten alle lange Beine. Auf den überfluteten Inseln wuchsen aber nur Büsche, keine Bäume.

Die ausgesetzten Tiere vermehrten sich schnell. Jedes Jahr kehrte das Biologen-Team auf die Inseln zurück und vermaß die Beinlängen der Tiere. Und tatsächlich - von Jahr zu Jahr wurden die Beine der Tiere kürzer. Das ist natürlich noch kein Beweis für den Gründereffekt, wohl aber ein Beweis für gerichtete Selektion. Den Beweis für den Gründeffekt lieferten genetische Untersuchungen der Tiere auf den Inseln. Die genetische Variabilität der Populationen war nämlich immer noch sehr klein, auch nach mehreren Generationen auf den Inseln. Und das ist ja ein typisches Merkmal für den Gründereffekt, dass die genetische Variabilität in der Gründerpopulation stark abnimmt, im Vergleich zur Ursprungspopulation.

Weitere Auswirkungen des Gründereffekts

Der Gründereffekt kann vielleicht auch das relativ hohe Vorkommen bestimmter Erbkrankheiten bei geografisch getrennten menschlichen Populationen erklären.

Die Inselgruppe Tristan da Cunha im Atlantik wurde 1814 von 15 Menschen aus England besiedelt. Einer dieser Menschen muss wohl ein rezessives Allel für die Erbkrankheit Retinitis pigmentose in seinem Erbgut gehabt haben. Als man Ende der 60er Jahre die Population auf diesen Inseln untersuchte, stellte man fest, das von den 240 Menschen, die inzwischen auf den Inseln lebten, vier an dieser Erbkranhkeit erkrankt waren. Da die Erbkrankheit rezessiv ist, man also zwei Allele "benötigt", um krank zu sein, gab es eine noch viel größere Zahl von heterozygoten Menschen, die nur ein Allel dieser Krankheit trugen, ohne selbst zu erblinden. Man stellte dann fest, dass die Allelfrequenz dieses Gens zehnmal höher ist als in der Ursprungspopulation [3].

"Gründer-Effekte sind für eine Reihe von Tier- und Pflanzengruppen beschrieben, u. a. für die Nördlichen See-Elefanten (Mirounga angustirostris), für die Mücke Aedes aegypti, für in Europa eingebürgerte Waschbären (Procyon lotor) oder südafrikanische Palmfarne der Gattung Encephalartos." [5]

Quellen:

  1. Spektrum Kompaktlexikon der Biologie, Stichwort "Gründereffekt"
  2. "Die Wirkung der Isolation", ein Artikel aus dem Standard.
  3. Urry, Cain, Wassermann, Minorsky, Reece, Campbell Biologie, Hallbergmoos 2019, 11.Auflage
  4. Zrzavý, Jan; Burda, Hynek; Storch, David; Begall, Sabine; Mihulka, Stanislav. Evolution (German Edition) (S.26). Springer Berlin Heidelberg. Kindle-Version.
  5. Storch, Volker; Welsch, Ulrich; Wink, Michael. Evolutionsbiologie (German Edition) (S.643). Springer Berlin Heidelberg. Kindle-Version.