Helmichs Chemie-Lexikon

London-Kraft

Die London-Kraft oder London-Wechselwirkung gehört zu den van-der-Waals-Wechselwirkungen, ist also eine schwache zwischenmolekulare chemische Bindung. Benannt ist diese Wechselwirkung nach dem deutsch-amerikanischen Physiker Fritz London (1900-1954). Seine Theorie der kovalenten chemischen Bindung wird als Meilenstein der physikalischen Chemie angesehen.

London-Kräfte sind schwache Anziehungskräfte zwischen Atomen oder unpolaren Molekülen, wie beispielsweise Alkanen. Diese Anziehungskräfte beruhen auf den Bewegungen der Elektronen in den Molekülorbitalen dieser Verbindungen.

Temporäre Dipole

"Bei einem Edelgasatom wie Argon ist die Elektronenverteilung um den Kern nur im Zeitmittel kugelsymmetrisch. Wenn wir das Atom jedoch in kleinen Zeitdifferentialen betrachten würden, dann fänden wir wechselnde Asymmetrien der Elektronenverteilung. Diese wirken sich so aus, daß sich das Atom wie ein schwacher Dipol verhält, dessen Orientierung sich dauernd verändert. Das zeitliche Mittel dieser kleinen Dipolmomente ist null."

Dieses Zitat stammt aus dem Buch "Physikalische Chemie" von Hummel und Moore aus dem Jahre 1976 und ist immer noch gültig. Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können - aber einfacher, nämlich mit einer kleinen Zeichnung:

Veranschaulichung des im Zitat Gesagten
Autor: Ulrich Helmich 08/2024, Lizenz: Public domain

Hier sehen wir vier Momentaufnahmen eines Helium-Atoms - das ist im Text gemeint, wenn von "kleinen Zeitdifferentialen" die Rede ist. Die jeweiligen Dipolmomente sind durch die blauen Pfeile gekennzeichnet.

In dem unteren Atom sehen wir keine Elektronen mehr, weil es sich um eine längere "Aufnahme" handelt. Die Elektronen bewegen sich so schnell, dass sie auf der Aufnahme nicht mehr zu sehen sind, sie erscheinen nur noch wie ein Nebel. Ein Dipolmoment ist im zeitlichen Mittel ebenfalls nicht mehr zu erkennen. Die vielen kleinen und großen und in unterschiedliche Richtungen weisenden Dipolmomente heben sich gegenseitig auf.

Kommen wir jetzt aber noch einmal auf die vier Momentaufnahmen zurück. In jeder dieser Momentaufnahme ist das Helium-Atom ein Dipol. Da diese Dipol-Eigenschaft aber nicht von Dauer ist, sondern nur vorübergehend, bezeichnet man solche Dipole als temporäre Dipole.

Induzierte Dipole

Dieser temporäre Dipol induziert dann in benachbarten Molekülen ebenfalls Dipol-Eigenschaften. Man spricht dann von einem induzierten Dipol.

Ein temporärer Dipol erzeugt einen induzierten Dipol
Autor: Ulrich Helmich 08/2024, Lizenz: siehe Seitenende

Temporäre und die von ihnen induzierten Dipole können sich dann gegenseitig anziehen. Und diese Anziehungskraft wird dann als London-Kraft oder London-Wechselwirkung bezeichnet. In der Fachliteratur wird die London-Kraft oft auch als Dispersionskraft oder Dispersionswechselwirkung bezeichnet.

Missverständnisse aus dem Chemieunterricht
Erstes Missverständnis

Im Chemieunterricht der Oberstufe lernt man meistens, dass es drei Typen von schwachen chemischen Bindungen bzw. zwischenmolekularen Wechselwirkungen gibt, nämlich - nach abnehmender Stärke - die Wasserstoffbrücken-Bindungen, die Dipol-Dipol-Kräfte und die van-der-Waals-Kräfte. Leider ist das alles nicht so ganz korrekt.

Als van-der-Waals-Wechselwirkungen bezeichnet man heute insgesamt drei verschiedene zwischenmolekulare Wechselwirkungen, nämlich:

  1. Anziehung permanenter Dipol - permanenter Dipol (Keesom-Wechselwirkung)
  2. Anziehung permanenter Dipol - polarisierbares Teilchen (Debye-Wechselwirkung)
  3. Anziehung polarisierbares Teilchen - polarisierbares Teilchen (London-Wechselwirkung)

Die zwischenmolekularen Wechselwirkungen, die man in der Schule als van-der-Waals-Kräfte bezeichnet, sind also nach moderner Auffassung eigentlich London-Kräfte.

Zweites Missverständnis

Ein zweites Missverständnis soll hier ebenfalls ausgeräumt werden.

Ein Standardbeispiel aus dem Chemieunterricht ist der Vergleich der Siedepunkte verschiedener organischer Verbindungen. Aceton hat mit 56 ºC einen deutlich höheren Siedepunkt als ein vergleichbares Alkan wie n-Butan mit -0,5 ºC. Und wie erklärt man im Unterricht diesen Unterschied?

Aceton-Moleküle sind permanente Dipole, und permanente Dipole ziehen sich gegenseitig stärker an als die völlig unpolaren Moleküle des Butans.

Es wird also der Eindruck erweckt, dass die Dipol-Dipol-Kraft (heute: Keesom-Wechselwirkung) stärker ist als die van-der-Waals-Kraft (heute: London-Wechselwirkung).

Das Gegenteil ist aber der Fall. Anziehende London-Kräfte gibt es nicht nur zwischen unpolaren Molekülen (Standard-Beispiel des Chemieunterrichts sind immer die Alkane), sondern auch zwischen den permanenten Dipolen polarer Moleküle. Bei Alkohol-Molekülen wird beispielsweise die Keesom-Wechselwirkung durch die London-Wechselwirkung überlagert. Denn auch in Dipol-Molekülen bewegen sich die Elektronen in den äußeren Hüllen ständig und erzeugen zusätzlich zu den permanenten Dipolen auch noch temporäre Dipole, welche die permanenten verstärken.

Fallbeispiel Halogenwasserstoffe

Vergleichen wir einmal die Siedepunkte der Halogenwasserstoffe HCl, HBr und HI:

  • Chlorwasserstoff HCl: -85 ºC
  • Bromwasserstoff HBr: -66,4 ºC
  • Iodwasserstoff HI: -35,4 ºC

Schauen wir uns dann die Dipolmomente dieser drei Verbindungen an:

  • Chlorwasserstoff HCl: 1,03 D
  • Bromwasserstoff HBr: 0,78 D
  • Iodwasserstoff HI: 0,38 D

Der Chlorwasserstoff hat das größte Dipolmoment. Wenn die Dipol-Dipol-Kräfte (heute: Keesom-Wechselwirkung) tatsächlich eine so große Rolle spielen würden, dann müsste doch eigentlich der Chlorwasserstoff den höchsten Siedepunkt haben und nicht der Iodwasserstoff. In der Schule würde man jetzt einfach die molare Masse der Verbindungen zur Erklärung heranziehen.

Es ist aber nicht die Masse der Teilchen, die den Siedepunkt bestimmen, sondern die Polarisierbarkeit der Elektronenhülle. Atome oder Moleküle mit großen Elektronenhüllen sind leichter polarisierbar als Teilchen mit kleinen Elektronenhüllen.

Die folgenden Zahlen zeigen die relative Polarisierbarkeit der drei Halogenwasserstoffe:

  • Chlorwasserstoff HCl: 2,63
  • Bromwasserstoff HBr: 3,58
  • Iodwasserstoff HI: 5,4

Iodwasserstoff-Moleküle sind also am leichtesten polarisierbar, das heißt, aus ihnen werden relativ leicht induzierte Dipole. Chlorwasserstoff-Moleküle dagegen sind relativ schwer zu polarisieren, also zu einem Dipol zu machen.

Dipolmoment und Polarisierbarkeit

Das Dipolmoment bestimmt die Stärke eines permanenten Dipols. Beim HCl-Molekül ist das Dipolmoment am größten, beim HI-Molekül am schwächsten

Die Polarisierbarkeit dagegen bestimmt die Leichtigkeit, mit der ein Molekül zu einem induzierten Dipol werden kann. Diese ist beim HCl-Molekül am geringsten, beim HI-Molekül am größten.

In der Tabelle "Relative Größe der zwischenmolekularen Wechselwirkung" in dem Buch von Hummel und Moore findet man in der Spalte "Dispersion" folgende Zahlen:

  • Chlorwasserstoff HCl: 105
  • Bromwasserstoff HBr: 176
  • Iodwasserstoff HI: 382

"Dispersion" ist ein anderer Ausdruck für London-Kraft, die Zahlen können also als relative Stärke der zwischen den Molekülen herrschenden London-Kräfte interpretiert werden.

Fallbeispiel Edelgase und Halogene

In dem Dokument "Lehrgang 'Chemische Wechselwirkung' " aus einer Lehrerfortbildung finden wir interessante Zahlen zu den London-Kräften bei den Edelgasen und Halogenen.

Edelgase:
Molekül He Ne Ar Kr
Polarisierbarkeit (relativ) 0,2 0,4 1,6 2,5
London-Kraft (relativ) 0,04 0,16 2,56 6,25
Halogene:
Molekül F2 Cl2 Br2 I2
Polarisierbarkeit (relativ) 1,1 4,6 6,4 10,2
London-Kraft (relativ) 1,21 21,2 41,0 104,0

Es fällt auf, dass die Atome der Edelgase relativ schwer zu polarisieren sind, entsprechend klein sind die London-Kräfte zwischen den Atomen.

Die Moleküle der Halogene sind leichter zu polarisieren daher sind die London-Kräfte zwischen ihnen auch entsprechend höher. Die leichtere Polarisierbarkeit hat mit der Größe der Moleküle etwas zu tun, ein aus zwei Atomen bestehendes Molekül bietet den Außenelektronen und den Elektronen der kovalenten Bindung natürlich mehr Platz zum Bewegen als ein kleines Atom, daher lassen sich solche Moleküle auch leichter polarisieren.

Zusammenhang zwischen Keesom- und London-Wechselwirkung

Ebenfalls in dem Dokument zur Lehrerfortbildung findet sich eine interessante Tabelle, die ich Ihnen hier nicht vorenthalten möchte:

Molekül HCl HBr HI
Polarisierbarkeit (relativ) 2,6 3,6 5,5
Dipolmoment in Debye 1,1 0,8 0,4
London-Kraft in meV 6,7 13,0 30,3
Keesom-Kraft in meV 1,5 0,4 0,03

Vergleicht man die London-Kraft und die Keesom-Kraft (in der Schule als "Dipol-Dipol-Kraft" behandelt), so stellt man erstaunt fest, dass die "schwache" London-Kraft einen viel stärkeren Einfluss auf den zwischenmolekularen Zusammenhalt der Moleküle hat als die "starke" Keesom-Kraft.

In diesem Dokument finden wir eine weitere interessante Tabelle:

Molekül CH3Cl CH3Br CH3I
Polarisierbarkeit (relativ) 4,4 5,6 7,3
Dipolmoment in Debye 1,9 1,8 1,6
London-Kraft in meV 19,4 31,4 53,3
Keesom-Kraft in meV 13,0 10,5 6,6

Im Vergleich zu den Halogenwasserstoffen sind sowohl die London- wie auch die Keesom-Kräfte in den Molekülen der Halogenmethane stärker. Trotzdem überwiegt auch hier der Einfluss der London-Kraft.

Fazit:

Die "van-der-Waals-Kraft", die im Chemieunterricht als "schwächste der schwachen chemischen Bindungen" dargestellt wird, ist in Wirklichkeit eine relativ starke zwischenmolekulare Kraft, eindeutig stärker als die "Dipol-Dipol-Kraft", wie sie im Unterricht oft heißt.

Quellen:

  1. London- und Keesom-Wechselwirkung (Materialiensammlung des Lehrerfortbildungsservers Baden-Württemberg)
  2. Wikipedia, Artikel "London-Kraft"
  3. Hummel, Moore, Physikalische Chemie, Berlin, New York 1976